Aschenpummel (German Edition)(10)



Ein lautes Hupen riss mich unsanft aus meinen Gedanken. Ich machte einen Satz zur Seite. Erst als der LKW vorbeigetost war, fühlte ich den Körperkontakt.

»Da hat wohl jemand ein bisschen geträumt …«

Ich fuhr herum. Die Arme, die mich auf den Gehsteig gezerrt hatten, gehörten zu Dr. Strohmann. Ich hatte ihn noch nie aus nächster Nähe gesehen, trotzdem erkannte ich ihn sofort. Wenn er auf dem Weg zu seiner Praxis am Schuh-Bi vorbeischritt, klebte die gesamte weibliche Kundschaft an der Fensterfront. Dr. Strohmann wusste, was sich gehörte, und winkte jedes Mal durchs Fenster. Er war der Superstar der Sieveringer Straße. Und jetzt stand er vor mir, ganz nah.

Hätte ich einen Busen, dann hätte er seine Rippen gestreift. Mir war entsetzlich schwindlig. Meine Lippen waren ausgetrocknet, ich hatte den Geschmack von abgestandenem Kaffee im Mund und wünschte, ich hätte meinen Kaugummi nicht ein paar Laufmeter zuvor verschluckt.

»Endlich habe ich mal ein Leben retten können. Dafür haben sich die sieben Jahre Medizinstudium gelohnt.« Die weißen Zähne blitzten im gebräunten Gesicht, und mir wurde klar, dass er meine verschwitzten Oberarme noch immer nicht losgelassen hatte.

»Danke, Herr Strohmann«, brachte ich hervor, »ich meine Doktor –«

»Sie arbeiten doch in dem kleinen Laden neben mir?«

Ich nickte und merkte, dass mir der Mund offen stand.

»Und? Sind Sie auf dem Weg dahin? Dann können wir ja gemeinsam gehen.« Seine Hände glitten an meinen Armen herab. Ich spürte, dass mein Gesicht knallrot war, und hoffte, Dr. Strohmann würde diesen Umstand auf meine Sportlichkeit zurückführen. Gemeinsam überquerten wir die Straße. Meine Knie fühlten sich an wie Wackelpudding. Ich neben dem schönen Zahnarzt, das war doch verkehrt. Das fühlte sich an, als wäre ich … ja, tatsächlich fühlte es sich an, als wäre ich eine richtige Frau.

Dr. Strohmann war groß, sicher über eins neunzig. Ich ging ihm gerade mal bis zur Schulter. Und diese Schulter war so nah neben meinem Kopf, dass seine Hand immer wieder an meinen Unterarm streifte. Goooott …

»Laufen Sie regelmäßig?«, fragte er plötzlich.

»Gott, nein«, entfuhr es mir voller Überzeugung. Verdammt! »Also früher schon, natürlich, ja, ja, aber jetzt … so viele andere Verpflichtungen, Hobbys, naja …«

»Segen und Fluch unserer Zeit«, meinte mein Begleiter kryptisch, und ich erwiderte: »Genau das. Sie sagen es.« Als wäre ich eine richtige Frau und als würde ich ein richtiges Gespräch führen.

Wir bogen in die Sieveringer Straße ein.

»Wissen Sie, dass ich Sie heute das erste Mal aus der Nähe sehe?«, sagte Strohmann plötzlich.

»Ja«, platzte ich heraus. »Ich meine – ich meine, ich Sie auch …«

Ich starrte ihn an, und er zwinkerte mir zu. Am liebsten hätte ich laut losgekichert.

Das Geschäft des Piraten lag dunkel und verlassen da. Trotzdem beschleunigte sich mein Herzschlag. Strohmann sah mich prüfend an. Schnell senkte ich den Kopf. Vor dem Schuh-Bi blieben wir beide stehen, und Strohmann nahm meine rechte Hand in beide Hände.

»Es hat mich sehr gefreut, ein Stück des heutigen Weges mit Ihnen gemeinsam zu gehen«, sagte er und sah mir dabei in die Augen.

War das versteckte Kamera oder so was? Noch nie hatte ein Mann so mit mir geredet. Und einer wie Dr. Strohmann redete sonst gar nicht mit mir.

»Mich auch«, piepste ich. Und dann, in einem plötzlichen Anfall von Wagemut: »Vielleicht trifft man sich ja wieder …« Meine eigene Courage war mir so peinlich, dass ich ein schnelles »Hihihi« dranfügte, wie um das Gleichgewicht der Natur wiederherzustellen. Teddy Kis war ein wandelndes Fettnäpfchen, und das durfte sich auch nicht ändern.

Doch der Zahnarzt blieb gelassen. »Wer weiß …«, entgegnete er mit samtweicher Stimme. Ich presste die Lippen zusammen, um ein dämliches Teenagergrinsen zu unterdrücken, was leider misslang. »Ciao«, machte Strohmann, hob die Hand und blinzelte mir zum Abschied zu. »Ciao«, machte ich, drehte mich um und knallte mit dem Kopf gegen die Glastür. Ich riss sie auf und stolperte ins Geschäft, noch ehe mir Dr. Strohmann seine ärztliche Hilfe anbieten konnte. Bonnie-Denise, die gerade einer unserer Stammkundinnen, einer pailettenbesetzten Mittsechzigerin, glitzernde Geox-Sportschuhe anprobieren wollte, schnatterte los: »Was hast du denn mit ihm geredet? Warum hat er deine Hand gehalten? Teddy, ich hab ja gar nicht gewusst, dass du ihn kennst! Bist du Patientin bei ihm? Was macht er überhaupt am Samstag hier, die Praxis ist doch geschlossen. Und warum hat er dich so angelächelt?«

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