Aschenpummel (German Edition)(7)



Wenn mir vor fünfzehn Jahren irgendjemand gesagt hätte, dass mir all das Zeug, von dem ich heimlich in der Bravo las, nie geschehen würde, dann … ja, was dann? Ich hätte es vermutlich nicht geglaubt. Ich hätte nicht glauben können, dass etwas, das alle Welt tat, mir nie vergönnt sein würde. Warum ich? Warum ausgerechnet ich?

Und was würde sein, wenn es mir doch endlich vergönnt war, womöglich sogar mit dem Piraten vergönnt war, und ich kläglich versagte? Der Mensch hat bekanntermaßen ein paar Urängste. Ich hatte ziemlich viele. Und seit vier Monaten war das eine davon. Was, wenn ich den Piraten tatsächlich rumkriegte und dann nicht gut genug war? Ich wusste ja nicht wirklich, wie das ging.

Ich strich mir über die Wange, die er berührt hatte. Ganz sanft nur, damit ich die Berührung ja nicht abwischte. Heute war der erste Abend seit vier Monaten, an dem ich kein Buch gekauft hatte.

Ein Abend, der in die Geschichte eingehen würde, ein Abend, der für einen Neubeginn stand, ein Abend, an dem ich endlich einmal nicht mein Handy nehmen würde und – ich holte mein Handy.

Ich starrte es an, biss die Zähne zusammen, und tippte schließlich doch die Zahlenkombination ein, die ich längst im Schlaf kannte. Fluchend, weil ich so wütend war auf meinen absoluten Mangel an Selbstbeherrschung. Ich hielt das Handy ans Ohr und lauschte mit angehaltenem Atem dem Freizeichen.

Es war ein Ritual. Vor vier Monaten eingeführt und nicht einen Abend ausgelassen. Unbegreiflich, aber ich konnte mir tatsächlich immer noch einreden, dass er nicht wusste, dass ich es war.

»Hallo?« Die Stimme des Piraten klang heiser.

Ich schwieg. Natürlich schwieg ich.

»Haaaallo«, das klang jetzt schon etwas ungeduldig.

Ich presste das Handy fester an mein Ohr und schwieg weiter.

Da – was war das? Ich hörte eine Stimme im Hintergrund. Eine Frauenstimme! Er legte auf. Ich starrte auf das Display. Die Worte: »Verbindung beendet« verschwammen vor meinen Augen. Er hatte eine Frau bei sich! Und ich Idiotin, ich hirnverbrannte Idiotin, glaubte tatsächlich jeden Tag aufs Neue, dass er sich in mich verlieben könnte.

»Wie kann man nur so beschissen dämlich sein!«, brüllte ich den Fernseher an.

Die nächsten vierzig Minuten heulte ich in mein gelbes Sofakissen. Ich konnte gar nicht sagen, was genau mich dermaßen aus der Fassung brachte. Ich hätte mir doch denken können, dass er eine Freundin hatte. Oder sogar eine Frau. Aber nie, nie hatte ich es derart hautnah mitbekommen.

Was für eine Vorstellung, dass ich den ganzen Heimweg lang »beflügelt« war wegen der popeligen paar Worte, die er mit mir gewechselt hatte, während er jetzt mit irgendeiner Schönheit zugange war und sich womöglich noch lustig machte über die dicke, ungeschickte Frau Kis, die in seinem Geschäft wahrscheinlich wegen akuter Unterzuckerung umgefallen war, weil sie sich zur Abwechslung mal keinen Schokoriegel reingezogen hatte! Denn so wie die aussah, war es ja wohl klar, dass sie den ganzen langen Tag nichts anderes tat, als sich Schokoriegel reinzuziehen! Aaaaarrrrrrrr! Ich riss an meinen Haaren, ich biss ins Kissen. Ich hasste mich! Ich hasste mich so sehr, dass ich mich am liebsten auf der Stelle in Dr. Tissis Behandlungsstuhl geschmissen und anschließend freiwillig in die Klapsmühle begeben hätte.

Den Mund weit aufgerissen, schleppte ich mich zum Fenster. Ich stieß es auf. Ein warmer Schwall Luft strömte mir entgegen. Ich lehnte mich weit hinaus und versuchte mir vorzustellen, was der Pirat empfinden würde, wenn er von meinem zerschmetterten Körper erfuhr.

Ich hoffte bei Gott, dass es ihn für immer verfolgen würde. Er hatte Frau Kis an jenem Abend gehen lassen und sie hat sich aus dem Fenster gestürzt. Ja, das tat gut. Wie schuldig sie sich alle fühlen würden. Der Pirat, Mama, Tissi. Alle, alle wären sie schockiert, dass ich es tatsächlich getan hatte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streckte mich noch weiter hinaus.

Und dann noch einen Zentimeter mehr. Und noch einen. Ich schloss die Augen. Ein Stückchen noch, dann würde die Schwerkraft den Sieg davontragen. Einen Sieg auf meinem zertrümmerten Rücken.

Von unten hallten Schritte herauf. Ich blinzelte. Ein alter Mann ging mit seinem Dackel Gassi. Der Hund blieb stehen und hob das Bein. Er pinkelte an die Laterne unter meinem Fenster und trippelte dann weiter.

Ich starrte ihm nach. Wenn ich jetzt hinuntersprang, würde ich mitten in der Dackelpfütze landen. Was für ein ungeheuer ironisches Ende für ein verpisstes Leben. Ich sank auf die Knie und stützte die Arme auf die Fensterbank.

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