Aschenpummel (German Edition)(9)
Ich konnte – ich konnte – ich musste eine kleine Verschnaufpause einlegen.
Zwei Uhr vierundvierzig. Sollte ich nochmal beim Piraten anrufen? Nur zweimal läuten lassen oder so, schauen, ob er abhebt, schauen, ob sie abhebt?
Ich griff nach meinem Handy, klappte es auf und begann die Nummer einzutippen. Plötzlich hielt ich inne. Nein, du Wahnsinnige, das wirst du nicht machen, das hast du nicht nötig. Du hast es nicht nötig. Ich drückte sekundenlang auf den roten Knopf, so lange, bis mein Handy sich abgeschaltet hatte, und war maßlos stolz auf mich. Das hier war die vollkommen neue Teddy, eine aufregende, interessante, starke Frau. Eine Frau, die keine anonymen Anrufe machte, eine Frau, die vielleicht anonyme Anrufe bekam. Jawohl, so wollte ich sein. Begehrt, umschwirrt, leidenschaftlich geliebt.
Ich stand auf und tastete mich durch das dunkle Schlafzimmer bis ins Vorzimmer und weiter in die Küche, wo ich mir eine Schachtel Schokobananen aus dem Kühlschrank angelte. Ich mochte sie am liebsten, wenn sie schön kalt waren. Leider hatte ich mir in einem Anflug von Selbstgeißelung nur die kleinen mit Geleefüllung gekauft. Nicht die guten großen mit echtem Bananenmark drin. Nach der Autosache letzten Sonntag war meine Moral die ganze Woche über so tief gewesen, dass ich mich in vielerlei Hinsicht hatte bestrafen müssen. Keine cremigen weißen Kokoskügelchen, sondern die mit Nougat gefüllten. Keine Mousse au Chocolat, nur Pudding – und zwar den ohne Sahnehäubchen.
Ich ging mit meiner Geleebananenschachtel ins Badezimmer, schaltete das Licht ein und setzte mich in Unterhosen auf die Fliesen. Am Ende eines Jahrhundertsommers hat jeder so seine Tricks drauf, wie er sich am besten Kühlung verschafft. Ich lehnte mit dem Rücken an der Badewanne, dachte an den Piraten, malte mir mit geschlossenen Augen aus, wie mich der völlige Wandel meines Lebens mit den süßesten Erfüllungen belohnen würde, und aß alle vierzig Schokobananen auf. Die waren ja so klein. Danach war mir trotzdem schlecht, und mein Bauch sah aus wie eine dreistöckige Raupe.
Zurück im Bett bescherte Modern Talking mir den nächsten Lovesong und ich musste feststellen, dass ich jede Silbe von »You’re my heart, you’re my soul« mitsingen konnte. Das durfte der Pirat nie erfahren.
3
Ich rannte, als ginge es um mein Leben. Zumindest die ersten zweihundert Meter. Bei der Trafik, in deren Hinterzimmer ich vor elf Jahren meinen ersten Kuss bekommen hatte, musste ich eine Pause einlegen. Die Zunge hing mir bereits aus dem Hals. Danach ließ ich es ruhiger angehen.
Verrückte Welt. Nach meinen nächtlichen Überlegungen hätte ich mich in aller Herrgottsfrühe mit Sachertorte vollstopfen, danach meinen Job kündigen und anschließend nach Paris abdüsen können. Doch was sollte ich in Paris, wo doch der Pirat hier war? Was sollte ich mit Sachertorte, wo ich doch nichts lieber wollte, als dem Piraten zu gefallen? Also hatte ich mich entschlossen, das erste Mal in meinem Leben Sport zu machen, danach brav arbeiten zu gehen und mein Leben in geordnete Bahnen zu bringen. Wenn Mama mir am Sonntag wirklich den Kopf abriss, konnte ich immer noch in Richtung Flughafen flüchten.
Morgen war Sonntag und plötzlich war mir speiübel. Meine Laufhose namens Damen Running Dreiviertel Tights, die ich mir vor Jahren gekauft und bisher noch nie getragen hatte, schnitt in meinen Bauch. Außerdem war sie viel zu heiß und brachte absolut nicht das, was ich erhofft hatte. Der Stoff war fest, und genau diese Festigkeit hatte ich mir für meine Schenkel gewünscht. Doch bei jedem harten Laufschritt auf dem Asphalt spürte ich ein eigenartiges Wabbeln vom Bauch bis zu den Knien und zurück. Und die Weste, die ich mir um die Hüften gezurrt hatte, reichte links und rechts nicht weit genug nach vorne, um irgendwas zu kaschieren.
Ich blieb stehen. Mein Atem rasselte. Nicht mal was zu trinken hatte ich dabei. Es war halb zehn, und es hatte bereits 28 Grad. Ich würde vollkommen verschwitzt im Geschäft ankommen. Okay Teddy, nicht unterkriegen lassen. Du hast frische Kleidung im Rucksack und ein Waschbecken im Schuh-Bi. Der Rest ist egal. Nein, nicht nur egal, sondern wurscht. Mama mochte es gar nicht, wenn ich »wurscht« sagte. Sie nannte mich dann Proletin. Ich grinste und lief weiter. Jetzt war alles wurscht. Das war ja ein wahres Zauberwort. Problem da? Ein kurzes Schulterzucken, ein saloppes Wurscht – Problem wieder weg.
Gut, wir reden hier nicht von Leukämie oder abgetrennten Körperteilen. Aber immerhin von Schweiß. Und ich hatte schon durchaus tragische Momente durch ebensolchen erlebt. Ich sage nur zwei Worte: »Tanzstunde« und »Kunstfasershirt« (Mamas Idee, beides).