Aschenpummel (German Edition)(36)
»Manchmal wünsche ich mir, sie würden kommen und mir erzählen, dass du im Krankenhaus vertauscht worden bist. Manchmal kann es einfach nicht sein, dass du meine Tochter bist.«
Meine Kehle war trocken, ich schluckte hart. Wieder strich Mama mir über den Arm. »Na, na, nicht weinen, Kind. Mama hat ihre beiden Mädchen gleich lieb.«
Prompt musste ich wieder aufschluchzen. Aus dem Augenwinkel sah ich meine Mutter den Kopf schütteln. Sie seufzte. »Ach herrje, auch wenn es jeder anderen Mutter leichter fallen würde, Tirza lieb zu haben.«
Wir fuhren den schmalen Feldweg entlang bis zur Blockhütte. Wie jedes Mal stand der blaue Nissan neben dem Haus. Wie jedes Mal stieg Mama mit den Worten aus: »Du bleibst im Auto sitzen und rührst dich nicht von der Stelle.« Wie jedes Mal verschwand sie gleich darauf in der Blockhütte und wie jedes Mal tat ich wie geheißen und blieb im Auto sitzen.
Während der nächsten Stunde musste ich einsehen, dass ich von meinem Vorhaben, das Leben von einer völlig neuen Seite anzugehen, bisher nicht viel umgesetzt hatte. Aber morgen war ja Montag, neue Woche, neues Glück, und da würde ich beginnen.
Doch nein! Nein, nein, nein, nicht morgen, verdammt noch mal, Teddy, heute! Jetzt! Gleich!
Aber wie, um Himmels willen? Den größten Schnitt zu meinem bisherigen Leben würde ich freilich begehen, indem ich jetzt einfach wegfuhr. Aber, ach, ich wusste auch nicht warum, aber ich wollte ihr nicht wehtun. Meine Mutter hatte ja niemanden außer mir. Ja, jetzt schwärmte sie von Tissi, ihrer vortrefflichen Erstgeborenen. Aber Tissi kümmerte sich kaum um sie. Arme Mama. Schon mal ein guter Grund, um nicht einfach wegzufahren. Und vielleicht war auch ein bisschen Feigheit mit dabei.
Ich starrte durch die Windschutzscheibe auf die Hütte. Seit sechs Jahren sah ich Mama jeden Sonntag dabei zu, wie sie die kleine Holztreppe hinaufging und, ohne einen Schlüssel zu benötigen, die Tür öffnete und nach drinnen verschwand. Immer, immer siegte meine Erleichterung darüber, sie zwischen den Autofahrten los zu sein, über die Neugierde.
Gefragt hatte ich sie nur ein einziges Mal, was es mit all dem auf sich hat. Das war beim allerersten Mal, am allerersten Sonntag gewesen. Von ihrem darauf folgenden Wutanfall haben mir noch zwei Wochen später die Ohren geklingelt.
Außerdem war ich die ersten Monate sowieso viel mehr damit beschäftigt gewesen, auf alle Verkehrszeichen doppelt und dreifach zu achten, den Wagen unter Kontrolle zu halten und hinter jedem Busch einen Polizisten zu vermuten.
Ich war sechsundzwanzig, als Mama mir erklärte, dass ich endlich den Führerschein machen und mir ein Auto zulegen müsse. Sie meinte, heutzutage sollte jede moderne junge Frau einen fahrbaren Untersatz haben. Ich gebe zu, dass mich das ziemlich überraschte. Meine Mutter war sonst so gar nicht von den neuen Zeiten angetan. Aber natürlich gefiel mir der Gedanke schon, eine megacoole Autofahrerin zu werden. Mit Sonnenbrille auf der Nase und Zigarette in der Hand.
Ich kaufte also eine Zeitung und schaute mir Autoinserate an. Der Führerschein mit allem Drum und Dran hätte damals etwa tausendfünfhundert Euro gekostet. Und ein gebrauchtes Auto, auf das man sich halbwegs verlassen konnte, mindestens dasselbe.
Ich hatte keine dreitausend Euro und wusste außerdem, dass ich den Führerschein nie schaffen würde. Prüfungsangst, darum hatte ich ja mit sechzehn die Schule abgebrochen.
Und außerdem war da die Sache mit der Kupplung und der Gangschaltung. Als Tissi und ich noch beide bei Mama wohnten, hatte mich mal einer ihrer Verehrer hinter sein Lenkrad gelassen. Er meinte, ich dürfe ein bisschen mit dem Zündschlüssel spielen, während er meiner Schwester die Unterbodenschmierung zeigt, oder so ähnlich. Ich startete den Motor und legte einen Gang ein. Das Geräusch ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Das lag daran, dass ich vergessen hatte, die Kupplung zu treten, und das dürfe man nie! nie! nie! vergessen, wie Tissis Verehrer mir hinterher mit Gebrüll einimpfte. Tissi sprach zwei Monate lang kein Wort mit mir.
Für mich kam also nur ein Automatikauto infrage. Ich fand eines um zweitausend Euro, Baujahr zweiundachtzig, hundertdreißigtausend Kilometer drauf. Das war viel, ich kaufte es aber trotzdem, es war genau der Betrag, den ich aufbringen konnte. Die hundertfünfzig Euro für die Anmeldung stahl ich Mama aus ihrer Wäschelade. Anfangs habe ich mich auch geschämt dafür. Als ich aber draufgekommen bin, dass das ganze Autofahren nur Stress bedeutete und mir null Spaß machte und ich – selbst wenn ich Raucherin wäre – es nie schaffen würde, mit einer Zigarette in der Hand zu fahren, habe ich mich nicht mehr geschämt. Denn ich benutzte den Fiat für nichts anderes, als Mama auf ihren Sonntagsausflug und wieder zurückzubringen.