Aschenpummel (German Edition)(31)



Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht mache ich das irgendwann.« Er klang allerdings nicht sehr motiviert.

Eine unangenehme Pause entstand, und nachdem ich den Ständer acht weitere Runden gedreht hatte, macht ich eine Verlegenheitsbemerkung. Eine, die Buchhändler wohl des Öfteren zu hören bekommen. »Und?«, fragte ich, »haben Sie alle Bücher hier drin gelesen?«

Doch der Pirat nahm die Frage ernst, freute sich sogar darüber. »O ja«, sagte er. »Ich versuche, jedes Buch, das ich ins Regal stelle, auch selber zu lesen. Sehen Sie, gerade lese ich dieses hier, über Insekten.« Plötzlich sah er mich nachdenklich an.

»Hmm, wahrscheinlich wird Sie das weniger interessieren …«

»Nein, wieso?«, rief ich. Es gefiel mir gar nicht, dass er mich für so ein typisches Frauenzimmer hielt, das bei jeder kleinen Spinne loskreischte.

»Ich liebe Insekten, Spinnen, Ameisen, Fliegen … alles.«

»Dann ist das hier genau das Richtige für Sie. Es sind großartige Aufnahmen drin. Schauen Sie mal, das hier ist ein Nashornkäfer. Der kann bis zu fünf Zentimeter lang werden.«

»Oh«, staunte ich und bemühte mich, nicht allzu genau hinzusehen, ich habe sowieso die Tendenz, von allen möglichen Krabblern zu träumen.

»Und hier, das ist besonders faszinierend, eine Nashornkäferlarve. Wissen Sie, wie groß die werden kann?«

Ich starrte auf das raupenförmige, durchsichtige Etwas und versuchte, mir nicht vorzustellen, wie das Ding sich durch meinen Mund schlängelte.

»Zwölf Zentimeter! Können Sie sich das vorstellen?«

Das konnte ich viel zu gut. Ich presste die Lippen aufeinander.

»Gigantisch«, quetschte ich hervor, und um zu zeigen, dass ich mitdachte, quetschte ich weiter: »Das ist ja sieben Zentimeter größer als der Käfer selbst.« Es juckte mich überall, und als der Pirat mir ein weiteres »faszinierendes Exemplar«, nämlich eine Blauzahnvogelspinne in Din-A4-Größe, zeigte, spürte ich ein deutliches Kraxeln und blickte auf meinen rechten Unterarm. Vor Schreck kreischte ich auf. Der Pirat sah mich erstaunt an. Ich starrte auf die Blauzahnvogelspinne im Buch, spürte wieder das Kraxeln auf meinem Unterarm und kreischte weiter. »O Gott, bitte, bitte, bitte, bitte … machen Sie das weg! Ich bin allergisch auf Marienkäfer, bitte!«

Behutsam nahm der Pirat den kleinen Käfer von meinem Arm und brachte ihn vor die Tür. Ich hätte mich am liebsten selbst aufgefressen, so wütend war ich auf mich. Gut, vielleicht war ich nicht der Welt größter Insektenfreund, aber vor einem Marienkäfer hatte ich wirklich keine Angst. Ich mochte sie sogar. Aber dieses viele Krabbelgetier in dem Buch hatte mir doch zu schaffen gemacht, und die kleinen Marienkäferfüßchen auf meiner Haut hatten mir den Rest gegeben.

Der Pirat kam zurück. Ich versuchte zu retten, was zu retten war. »Ich – diese Allergie … sie liegt bei uns in der Familie, seit Generationen und Generationen … schade, so schade, weil sie ja so süß sind, die Marienkäfer, aber drum meinte ich eben … Spinnen, Fliegen, alles super, nur eben keine Marienkäfer … wegen der Allergie …«

Er sah mich lange mit diesem neuen Auge an. Ich glaube, so lange hatte er mich überhaupt noch nie angesehen, ich traute mich kaum zu atmen, wartete auf den Todesstoß. Marienkäferallergie, um Gottes willen, das war das Erbärmlichste, das die Welt je gehört hatte.

Da sagte er: »Wissen Sie, was ich sehr schön finde?«

Wie gerne hätte ich »Ja« darauf gesagt, schließlich wünschte ich mir doch, dass er an unsere Seelenverwandtschaft genauso glaubte wie ich, und da käme so ein »Ja, ich weiß immer, was in dir vorgeht« gerade recht. Gott sei Dank war ich klug – oder feige – genug, trotzdem den Kopf zu schütteln.

Der Pirat schlug das Insektenbuch zu und legte es in seine Schreibtischschublade. Die Tätigkeit schien ihn vollkommen in Anspruch zu nehmen, und ohne aufzublicken sagte er: »Obwohl Sie so eine große Angst hatten, wahrscheinlich sogar Todesangst, haben Sie den Marienkäfer nicht einfach erschlagen.« Jetzt sah er auf. »Das finde ich sehr schön.«

Ich lächelte. Mit gesenktem Blick, sanft, bescheiden und tierlieb. Nach der peinlichen Geschichte eben konnte ich jeden Bonuspunkt gebrauchen, es wäre also sehr blöd von mir gewesen, ihn darauf hinzuweisen, dass ein Draufschlagen auf den Marienkäfer zusätzlichen Körperkontakt bedeutet hätte, den ich ja so dringend hatte vermeiden wollen. Außerdem tötet man niemanden, aus Prinzip nicht. Höchstens ich mich selbst, dachte ich in einem gewagten Anfall von zurückkehrender Melodramatik.

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