Aschenpummel (German Edition)(30)



»Nicht? Pir-, ich meine, Herr Nemeth, Sie haben die Klappe sonst immer auf dem anderen Auge.«

Er lächelte. »Dass Ihnen das auffällt … ich wechsle alle halbe Jahr, sonst ist es zu viel Belastung für das eine Auge, während das andere verkümmert.«

»Aber warum …?«

»Wenn immer das gleiche Auge –«

»Nein, nein!«, rief ich. »Das hab ich schon kapiert. Ich meine, warum tragen Sie überhaupt die Klappe?«

Das Leuchten in dem für mich völlig neuen linken Auge erlosch. Der Pirat ging weiter, ich eilte ihm nach, und erst als er die Tür vom Libri Liberi aufsperrte, sagte er: »Frau Kis, bitte fragen Sie mich nicht mehr danach.«





8



Er stieg die kleine Stufe hinunter und blieb mit dem Rücken zu mir an seinem Schreibtisch stehen. Ich stand mit offenem Mund auf dem Gehsteig und BE-DEs Worte dröhnten in meinem Inneren: »Wer eine Maske trägt, der hat was zu verbergen.« Das war es, oder? Aus irgendeinem Grund hatte der Pirat sich entschlossen, eine Maske zu tragen. Leute wie Bonnie-Denise konnten das natürlich nicht verstehen. Aber ich! Ich, du dummer Pirat, ich verstand das natürlich! Es war ein Schutz. Eine Art Festung zwischen der leisen, sensiblen Seele des Piraten und der lauten, schmutzigen Welt da draußen mit all ihren einschüchternden Bodybuildern, Barkeepern und schwarzhaarigen Schönheiten. Mein Gott, ich hätte auf der Stelle auch eine Augenklappe genommen, wenn ich die saublöde Brille nicht gebraucht hätte, aber nein, ich vertrug natürlich keine Kontaktlinsen!

»Kommen Sie doch herein, Frau Kis.«

In dem grellen Licht, das so einen starken Kontrast zu der Dunkelheit auf der Straße bildete, sah er sehr dünn aus, fast zerbrechlich. Und sein Lächeln wirkte müde. Plötzlich wollte ich nur noch eines: ihn aufheitern. Ich trat die Stufe hinunter und schloss die Tür hinter mir. »Sie haben so ein schönes Geschäft, Herr Nemeth. Wirklich, es ist das prächtigste Buchgeschäft, das ich kenne.«

Wie auf Kommando sahen wir uns in dem bescheidenen Raum um, bei dessen Anblick einem »prächtig« nicht unbedingt als Erstes in den Sinn kam. Umso vehementer bekräftigte ich: »Es ist prächtig, wahrhaft prächtig.«

Der Pirat lehnte am Schreibtisch. »Sie mögen Bücher sehr, nicht wahr?«

»Am allermeisten von allen Dingen auf der ganzen, weiten Welt«, beschwor ich, fest davon überzeugt, dass die Tristesse des Piraten nur durch Superlative zu heilen war.

Er stieß sich vom Schreibtisch ab und begann, das vordere Regal abzugehen. Ich fingerte an dem Drehständer, den ich gestern beinahe umgeschmissen hätte, und meine Gedanken drehten sich im Kreis, genau wie das Bücherkarussell. Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich, er liebt mich nicht … dummes Ding, dich hat noch nie ein Mann geliebt, also wohl nicht … aber er ist so anders als alle anderen, also vielleicht doch … aber er ist und bleibt ein Mann, also nicht … und wenn er aber schwul ist, dann vielleicht doch, dann bringt es aber nichts …

»Da haben wir sie.«

»Häh?« Gott, Teddy, »häh« wäre jetzt aber nicht nötig gewesen, oder?

»Jane Eyre. Hier ist sie.«

»Oh, ja natürlich, das ist wunderbar, ich hab nämlich noch keine, nur mal aus der Bibliothek ausgeborgt …«

»Dann haben Sie die andere Ausgabe wohl hergeschenkt?«

Ich wurde rot. So ein Mist, natürlich, ich hatte schon eine, das war aber Ewigkeiten her, dass ich die beim Piraten gekauft hatte, das musste an einem der allerersten Tage gewesen sein.

»Sie haben sie gekauft, als Sie das zweite Mal hier waren. Am ersten Tag waren es Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Und am dritten Tag haben Sie Anne auf Green Gables genommen –«

» – und am vierten«, flüsterte ich, »Anne von Avonlea. Und am fünften Anne in Kingsport. Und am sechsten das Guinness Buch der Rekorde 1986 …« Danach brachte ich kein Wort mehr raus. Mein Gott, ich war wichtig für ihn. Er liebte mich.

Er sagte: »Wundern Sie sich bitte nicht, dass ich mich so gut erinnern kann. Ich fürchte, Bücher sind meine einzige Leidenschaft. Ich habe alle Verkäufe der letzten vier Monate im Kopf.«

Der Mann war der Romantikkiller Nummer eins. »Sie sollten bei Wetten dass … auftreten«, presste ich hervor.

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