Aschenpummel (German Edition)(41)



Gisela war so nett, von meinem trampeligen Verhalten abzulenken, indem sie die halbe, vergammelte Wurstsemmel nahm, sie in einen Eimer warf, der unter dem Tisch stand, und sagte: »Teufel, wie sehr ich das Chaos an dem Mann hasse.«

Ich wünschte sehnsüchtig, ich könnte so locker über den Piraten sprechen. »Wie lange kennst du ihn schon?«, fragte ich.

»Sigi? Dreizehn, vierzehn Jahre. Wir haben zusammen an der Uni begonnen.«

»Er hat studiert?«

»Ungefähr ein ganzes Semester lang, ja.« Sie rubbelte mit den Fingerspitzen über die Tischplatte und fragte: »Möchtest du wissen, wie er damals war?«

Ich schluckte. Dann nickte ich. Sie kam mir direkt überirdisch vor. Nicht nur wegen ihrer Ausstrahlung, sondern weil sie das erste Bindeglied zur Vergangenheit des Piraten war. Der erste Beweis dafür, dass es diesen Mann schon früher gegeben hatte.

»Also, Teddy«, sie verschränkte die Arme, »einen Knall hatte er immer schon. Er war besessen von der Idee, über die Literatur eine bessere Welt zu schaffen, die Leute zum Lesen zu bewegen. Quasi, wer liest, der ist ein guter Mensch. Ich glaub, so ganz ist er noch immer nicht dahinter gekommen, dass das der reinste Schwachsinn ist.«

»Aber wenn man nur edle Werke liest?«, warf ich vorsichtig ein.

»Blödsinn. Schau dir allein mal die Nazis an. Unter denen gab oder gibt es genauso Literaten wie Schauspieler, Komponisten oder sonst was. Die Kunst und deren Genuss ist kein Vorrecht der guten Menschen.« Sie besah sich ihre Fingernägel und meinte genussvoll: »Das wäre leider ein Riesenvorurteil.«

»Oh«, stieß ich plötzlich hervor. »Oh, hat er eine Freundin?«

Gisela runzelte die Stirn. »Schon seit hundert Jahren nicht mehr.«

Meine Knie wurden weich. Ich wusste, dass es hysterisch war, aber ich musste einfach heulen vor Freude.

»Hey, Teddy, immer mit der Ruhe. Tief durchatmen. Alles wird gut.«

»Mir geht’s –«, ich schluchzte auf, »mir geht’s eh gut. Das ist es ja.« Ich schniefte zweimal, dann platzte es aus mir heraus: »Warum trägt er die Augenklappe, Gisela?«

Sie lächelte. »Das herauszufinden liegt an dir.«

Ich starrte sie an. »Ich hab schon was herausgefunden. Was wirklich Erschütterndes. Er hat die Seite gewechselt.«

»Ich weiß.« Sie nickte. »Das macht er jedes halbe Jahr. Verrückter Hund, aber was soll’s.«

»Bitte sag es mir. Bitte.«

»Teddy, wenn du ihn wirklich liebst, dann lass ihn das machen, okay?«

Nein, nicht okay, aber was konnte ich schon dagegen tun. Ich biss mir auf die Unterlippe, hatte Angst vor der Frage, die ich gleich stellen würde. Und noch vielmehr Angst vor Giselas Antwort, aber ich musste es einfach wissen.

»Was?«, begann ich, »was hat er dir über mich erzählt? Außer dass ich – lesbisch bin.« Bei den letzten beiden Worten verzog ich unwillkürlich das Gesicht. O Gott, hoffentlich verstand Gisela mich nicht falsch und dachte jetzt, ich hätte etwas gegen Homosexualität. Doch Gisela lächelte mich an und drückte kurz meine Hand.

»Viel war es nicht. Er hat mich gestern angerufen und mir gesagt, dass er jemanden kennt, der Probleme mit der Identifikation hat. In so einem Fall rücke ich an.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber du, meine Liebe, bist eindeutig nicht lesbisch, und so verblendet wie Sigi kann nur ein Hetero sein.«

»Und was mach ich jetzt?«

»Du willst ihn. Also schnapp ihn dir.«

Sie sagte es, als wäre das die logischste Sache auf der Welt. Und die einfachste noch dazu.

»Ja, aber wie?«, stieß ich hervor.

Gisela schnalzte mit der Zunge. »Leicht wird’s nicht. Nachdem er dich momentan für lesbisch hält –«

Ich schniefte. Gisela rüttelte mich. »Als Erstes hörst du mal damit auf, in Selbstmitleid zu versinken. Damit ist jetzt Schluss, kapiert? Sigi braucht keinen Jammerlappen an seiner Seite, das ist er selber. Du musst die Starke sein, alles klar? Lass dich nicht so gehen, sei froh, dass du so bist, wie du bist. Andere werden ohne Beine geboren.«

»Und ich ohne Brüste.«

Schon zog sie mein T-Shirt in die Höhe. »Zeig!«

»Nein!«

»Glaubst du, ich will dich anbaggern?«

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