Aschenpummel (German Edition)(43)



Gisela sah mich lange an. »Und deine Schwester? Kommt sie noch immer mit zum Baumkaufen?«

Ich hätte beinahe gekichert. »Nein. Tissi ist mit neunzehn ausgezogen, um ihr ›eigenes Leben‹ zu leben. Mama und ich haben darin nichts zu suchen, außer sie hat Lust, ein bisschen Frust abzuladen. Sie ist wirklich hübsch, weißt du? Und ich halte es keine Sekunde im selben Raum mit ihr aus.«

»Und mit deiner Mutter?«

Ich zuckte die Schultern. »Mit meiner Mutter schon. Ich bin es gewohnt, mit ihr zusammen zu sein …«

»Gewohnt.« Gisela nickte. »Aber gut fühlst du dich nicht bei ihr?«

Ich wollte nicht zu sehr über meine Mutter schimpfen, also sagte ich nichts.

»Du bist zu bewundern.« Gisela stützte die Ellbogen auf die Knie.

»Ich?«, rief ich, beinahe entsetzt.

Sie nickte. »Eine Mutter, die ihre eigenen Kinder manipuliert, eine Schwester, die sich abgesetzt und dich quasi als einziges Kind dieser Mutter zurückgelassen hat. Und mittendrin du. Teufel, Teufel. Du musst die engelhafteste Geduld haben, die man sich nur vorstellen kann.« Sie drückte meine Hand. »Teddy, sag schon, was tust du dir Gutes?«

»Ich esse und ich schaue fern.«

»Und sonst?«

»Jeden Abend gehe ich zu Sigi und kaufe ein Buch.«

»Und sonst?«

Ich schüttelte den Kopf. Gisela auch. »Das reicht nicht«, sagte sie bestimmt.

»Dann sag mir doch bitte, was ich machen soll! Wie kann ich ihn kriegen? Wie muss ich sein?«

»Als Allererstes musst du dir darüber klar werden, dass du dich nicht nur für ihn ändern darfst. Sondern für dich.«

Ich schob diese Wortklauberei mit einer Handbewegung beiseite. »Ja ja, okay. Und wie kriege ich ihn?«

»Hast du mir zugehört?«

»Gisela, ohne ihn kann ich nie glücklich werden. Nie.«

Gisela lachte. »Teufel, Teufel, Mädchen. Pass auf, wir einigen uns auf Folgendes: Sorg du dafür, dass du dich mit dir selbst wohlfühlst, dass du glücklich bist. Dann ergibt sich die Sache mit Sigi von allein.«

Ergeben seufzte ich. »Na gut. Und schaffe ich das in fünf Tagen?«

Sie grinste. »Den Anfang schon.«


Ich fuhr mit der Straßenbahn nach Hause. Eigentlich wäre ich viel lieber zu Fuß gegangen, geflogen, doch es war nach acht, und Mama würde sowieso schon ein Spektakel veranstalten. Irgendwann würde ich dahin gelangen, dass es mir nichts mehr ausmachte, wenn meine Mutter wütend auf mich war. Dass ich ihr klipp und klar ins Gesicht sagen konnte, dass es sie überhaupt nichts anginge, ob ich um halb acht, um acht oder die ganze Nacht nicht nach Hause kam. Doch an diesem Abend hatte ich keinen Nerv dafür. Trotzdem kam ich mir ein bisschen heroisch vor, als ich, in der Straßenbahn sitzend, im Flüsterton Scarlet O’Hara zitierte: »Aber nicht heute. Verschieben wir’s auf morgen.«

Danach rief ich mir noch einmal die wesentlichen Punkte ins Gedächtnis, die ich Gisela zufolge lernen sollte:

Auf meine Bedürfnisse zu hören.

Mich zu mögen.

Mir selbst Gutes zu tun.

Mich nicht unter Wert zu verkaufen.

Mich selbst zu akzeptieren und zu respektieren.

Und den Mut zu haben, Dinge zu ändern, die den ersten fünf Punkten hinderlich waren.

Dazu gab sie mir ein paar Tipps. Einige davon klangen sehr simpel, wie etwa, dass ich beim Gehen auf der Straße öfter mal den Kopf heben sollte, mir bewusst die Welt ansehen, lächeln. Oder dass ich mir ein tolles Schaumbad gönnen sollte und danach eine duftende Bodylotion. Womöglich hatten die Frauenzeitschriften in diesem einen Punkt also doch recht.

Und dann kamen die drei Hammer: Ich sollte unbedingt mal in die Sauna gehen, ohne Handtuch, um ein gesundes Körperbewusstsein zu entwickeln. Und ich sollte ein paar kleine Flirts riskieren. Flirts! Ich! Und Mama und Tissi mussten klare Grenzen von mir gesetzt bekommen.

Ehrlich, ich hatte keine Ahnung, welche von den drei Aufgaben die unerfüllbarste war. Geschweige denn, welche der drei überhaupt eine Chance hatte, erfüllt zu werden.

Doch das alles war noch nicht das schlimmste. Das Schlimmste war, als ich in meiner Wohnung ankam und mir der fürchterlichste Gedanke überhaupt einschoss.


»Ist doch prima«, hörte ich Gisela sagen.

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