Aschenpummel (German Edition)(19)
»Ja, Tiss-, äh Tira.«
Sie klopfte an meine Stirn. »Mer-ken bitte!« Dann legte sie die Hand auf Vanessas Arm. »Es hat mich schrecklich gefreut, Sie kennenzulernen. Und bitte, kommen Sie bei mir vorbei. Dann können wir uns über die enorme Belastung unterhalten, die der Umzug und die ganze Veränderung für Sie Arme bedeutet.« Einen Moment lang betrachtete sie ihr Gegenüber prüfend, dann fuhr Tissi fort. »Daher kommen wahrscheinlich auch die vielen Falten. Meine Güte, Sie Arme …« Sie seufzte mitfühlend, dann rauschte sie hinaus.
»Deine Schwester ist entsetzlich direkt«, keuchte Vanessa.
»Ich weiß … es … tut mir wirklich leid, du musst vergessen, was sie gesagt hat, durch ihren Beruf ist sie immer so … so, sie sieht in allem das Schlimmste, deine Falten …«
Vanessa kicherte. »Falten? Mach dich nicht lächerlich, die ist doch nur neidisch. Nein, ich meinte das, was sie über dich gesagt hat. Sie tut ja so, als wäre nur ihr Leben wichtig, außerdem tut sie so, als wärst du Gott weiß wie unansehnlich!«
»Und das bin ich nicht?«, fragte ich unsicher.
»Teddy, nein, du siehst … reizend aus. Wirklich reizend.«
Vor Dankbarkeit stiegen mir die Tränen in die Augen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass jemand was Positives über mein Äußeres sagte.
Ich senkte den Kopf und weinte plötzlich, was das Zeug hielt. So wie sie vorhin. Nur wo sie sanft geschluchzt und gekiekst hatte, schnaufte und grunzte ich.
»Du siehst reizend aus. So reizend«, wiederholte sie in einem fort. Irgendwann schaffte ich es, den Kopf zu heben und hervorzupressen: »Jetzt gerade aber nicht, oder?«
Sie lächelte, und ich lächelte zurück. Danach bekam ich Schluckauf.
Vanessa legte den Arm um meine Schulter und küsste mich sogar auf den Kopf. Eine Sache, die normalerweise nur mein Vater, Henry Fonda, machte. Und zwar dann, wenn er mich seinen Kollegen in Hollywood vorstellte und Charles Bronson und Claudia Cardinale erklärte, dass ich seine größte Stütze, sein ganzer Stolz sei.
»Ich glaube, wir werden gute Freunde sein«, sagte Vanessa plötzlich. »Wirklich«, hauchte ich, und sie war mir tatsächlich so nah in diesem Moment, dass es mir nicht besonders seltsam vorgekommen wäre, wenn wir auch noch angefangen hätten, uns gegenseitig Zöpfe zu flechten.
Sie gab mir ihre Handynummer und beschwor mich, sie doch wirklich und unbedingt bald anzurufen. Ich schwitzte, der Stift in meiner Hand zitterte. Ich versuchte krampfhaft, das Zittern vor ihr zu verstecken, sie durfte nicht merken, wie wichtig sie plötzlich für mich war. Ich hatte keinerlei Erfahrung in diesen Dingen, und Vanessas Freundlichkeit, um nicht zu sagen Zuneigung, überforderte mich schlicht. Wie reagierte man als normaler Mensch auf so was? Dankbar? Euphorisch? Cool? Und woher wusste ich, ob sie es tatsächlich ernst mit mir meinte? Ich wollte es so gerne glauben.
Zum Abschied nahm sie mir das Versprechen ab, bei ihrem nächsten Besuch im Laden sämtliche Stöckelschuhe anprobieren zu dürfen, und warf mir außerdem eine Kusshand zu, die ich voller Begeisterung und mit einem lauten Schmatzen zurückgab.
Weg war sie. Ich sank auf meinen Hocker. Was war ich für ein gesegnetes Geschöpf. Ich hatte den Piraten, ich hatte Bonnie-Denise, und jetzt hatte ich sogar Vanessa.
Ein Uhr war längst vorbei, ich konnte den Rollladen herunterlassen, das Geschäft zusperren und nach Hause gehen. Sinatra sang zum Abschied »My Way« und ich sang lautstark mit. Das Leben war schön.
So schön, dass ich mir beim Bäcker an der Straßenbahnhaltestelle ein großes Stück Mohnkuchen kaufen musste, immerhin hatte ich heute schon gesportelt und genauso gut konnte ich morgen damit anfangen, dünn zu werden.
Die Straßenbahn kam, und ich stieg ein. Und mit jeder Station, die sie mich meiner Wohnung näher brachte, wusste ich, dass ich es heute ausprobieren musste. Jetzt gleich.
5
Ich stieg bei der Nussdorfer Straße aus und marschierte die Stiegen zur Liechtensteinstraße hinunter. Beschwingt und entschlossen zugleich klackerten meine Sandalen bei jedem Schritt, und ich fühlte mich stark, mutig und – hübsch. Ja, hübsch.
Mein Auto war klein, rostig und irgendwann einmal grün gewesen. Ich ärgerte mich, als ich beim Aufsperren einen Adrenalinstoß verspürte. Mutige Menschen sollten nur dann unter Adrenalin stehen, wenn sie andere aus brennenden Häusern retten. Ich wusste, dass ich nicht lange darüber nachdenken durfte. Einfach anlassen, die Automatik auf D stellen, den Fuß aufs Gaspedal und los. Doch ein gelbes Auto vorne und ein rotes hinten bremsten mich aus, bevor ich überhaupt losfahren konnte. Ich war eingekeilt.