Aschenpummel (German Edition)(16)



Nein, ich habe schon vor langer Zeit herausgefunden, dass es vor allem eine Sache ist, die die Schönheiten den Normalsterblichen voraushaben. Und das ist ihre Haltung. Und damit meine ich nicht, dass sie stets kerzengerade durch die Straßen gehen, oh nein, die da zum Beispiel rollte ihre Schultern nach vorne, wodurch sie einen Buckel machte, dass Quasimodo vor Neid erblassen könnte. Dazu hielt sie ihre dünnen Ärmchen in den Ellenbogen und den Handgelenken abgewinkelt wie Tyrannosaurus Rex auf Futtersuche. Und dennoch. Es lag eine gewisse Erhabenheit in der Art, wie sie ihren Körper präsentierte und mit manikürten Fingern die Handtaschen am Ständer inspizierte.

Ich könnte das vor dem Spiegel üben, so viel ich wollte, da wäre nichts zu machen. Weil mir die eine wesentliche Sache fehlt: das Wissen darum, begehrenswert zu sein. Die Erfahrung, allein schon durch meine Optik etwas darzustellen. Bei einer wie ihr würde ein intaktes Jungfernhäutchen auf dem Pathologentisch als Sensation gefeiert werden.

Aus dem CD-Player erklang Sinatras »Girl from Ipanema«, und Frankie hätte sich wahrlich keinen passenderen Moment und keine bessere Traumfrau dafür aussuchen können. Ich ließ den Schwamm auf den Boden fallen, wischte mir die Hände am Rock ab, dann räusperte ich mich und hoffte, dass die Traumfrau zumindest einen Riesenzinken haben würde.

Mit Schwung drehte sie sich um. Nein, vergebens gehofft. Sie hatte etwas äußerst Gefälliges in der Gesichtsmitte, ein ganz allerliebstes Stupsnäschen, und es kam sogar noch schlimmer.

Die Schöne war Vanessa Hoffmann. Ich hatte sie seit sechzehn Jahren nicht gesehen. Ich war doppelt so alt wie damals. Doch auf der Stelle fiel ich in pubertäres Verhalten zurück. Meine Hände wussten nicht wohin. Meine Blicke schwirrten im Raum umher. Und die Pickel, die mir in diesem Moment ganz bestimmt im Gesicht wuchsen, konnte ich beinahe sprießen hören.

Sie übernahm die Führung. »Ach du meine Güte … bist du …? Du bist es doch?«

»Wir waren in derselben Klasse, ja«, antwortete ich.

Auf ihrer Stirn zeigte sich ein ganz entzückendes Fältchen. »Ist das lange her …«

Ich nickte. »Ewigkeiten.«

»Wie die Zeit vergeht.«

»Tick-tack, tick-tack«, machte ich, weil mir nichts Besseres einfiel, und kam mir dabei vor wie eine Psychopathin.

Das Fältchen wuchs sich beinahe zur Falte aus, und Vanessa deutete auf das Auslagenfenster. »Ich bin nicht hier, um etwas zu kaufen«, stellte sie fest.

»Okay …« Jetzt war sie die Psychopathin.

»Ich – also um ehrlich zu sein, es war draußen so heiß und da dachte ich –«

Der hübsche Mund verzog sich zu einem etwas schiefen Lächeln. Er wurde breiter und breiter. Ein juchzender Laut, der wohl jeden Mann in Ekstase versetzt hätte, entfloh ihm. Mir war das peinlich. Ich schätze, ich brauchte wohl eine gute Minute, um zu kapieren, dass sie weinte. Eine weitere Minute, um mich aus meinem Salzsäulenzustand zu reißen.

Gottogott, was nun? … Ich versuchte es mit Schultertätscheln. Vanessa zu berühren war komisch. Das hatte ich in sechs gemeinsamen Schuljahren nicht getan. Also ließ ich die Hand sinken und murmelte: »Wird schon wieder, hmm?« Wow, das klang ja phantastisch.

Sie ließ sich auf die Bank fallen. Ich vergaß vor Schreck zu atmen. Gut, ich hatte sie nie gemocht, aber dass sie sich mit ihrem hellen Kleid ausgerechnet jetzt, wo sie ohnehin so verzweifelt war, in Mellis Schokoeisfleck setzte, hatte ich nicht gewollt. Sie hatte aber nichts gemerkt und kiekste und schluchzte leise weiter. Die Hände hatte sie zierlich vors Gesicht gelegt. Herrgott, die Frau weinte ja sogar attraktiv! Wenn ich heule, greint es nur so aus mir heraus und aus Augen, Nase und Mund strömen alle möglichen Körperflüssigkeiten.

Mit einem Blick auf die Uhr an der Wand stieß ich hervor: »Vanessa, kann ich dir irgendwie helfen?«

»Es geht schon. Ist nicht so schlimm«, sprach’s mit erstickter Stimme, den Kopf immer noch in den Händen vergraben.

»Ja dann …« Hilflos, und vor allem ungesehen, wies ich in Richtung Tür.

Von unten tönte es verzweifelt: »Es ist nicht leicht für eine Frau, so auszusehen wie ich.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah böse ihren Hinterkopf an. Natürlich, es war nicht leicht, mit einem Engelsgesicht inklusive Stupsnase, umrahmt von langen Locken, und das alles präsentiert auf einem Traumkörper, durchs Leben zu gehen. Viel leichter war es freilich, flachbrüstig, breithüftig, schmallippig und dünnhaarig wie ich zu sein.

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