Die Treppe im See(86)



Er schnitt mir das Wort ab. ?Ich werde nichts davon abdrucken, bis ich Ihre Rückmeldung habe.?

?Vielen Dank.? Ich schaute gedankenverloren auf den Umschlag.

?Sie wissen, was das bedeutet?, sagte Earl leise.

?Natürlich?, erwiderte ich. Es war uns beiden klar. ?Natürlich …?

Nun ging ich über die S?gesp?ne am Boden des Tequila Mockingbirds zu einem Tisch im hinteren Bereich. Von meinem Stuhl aus hatte ich die Tür im Auge. Die Jukebox spielte einen melancholischen Country-Song, der manchen Gast an der Theke die Schultern h?ngen lie?. Der Regen trommelte aufs Blechdach und str?mte an den Fensterscheiben herunter. Das Etablissement wirkte deprimierend leer – gleich einem von Vandalen gesch?ndeten Grab. Ich schaute auf meine Armbanduhr.

Tooey Jones kam an den Tisch, mit einem Tuch polierte er ein Glas. ?Eine der wenigen verlorenen Seelen, die es wagen, dem Regen zu trotzen?, grü?te er. ?Was darf es sein??

Ich orderte ein Glas Wasser, das ich hinunterstürzte, kaum dass er es gebracht hatte, sowie einen Gin Tonic (um niemanden skeptisch zu machen). Allerdings blieb er unberührt neben dem Umschlag, den ich von Earl bekommen hatte, auf dem Tisch stehen. Der alte Country-Song verklang und aus der Jukebox kam etwas von Charlie Rich. Gegenüber im Raum wirkten die gerahmten Motive von Lieder der Unschuld und Erfahrung unpassend – irrationale Schreckbilder, die irgendwie in einen ansonsten banalen Traum eingedrungen waren. Meine Augen blieben auf den Replikaten von Der kleine Junge, verlorengegangen und Der kleine Junge, gefunden h?ngen.

Als Adam eintraf, klebte sein Haar nass vom Regen am Kopf, und er hauchte sich in die F?uste, um sie zu w?rmen. Nachdem er am Tresen ein Bier bestellt hatte, kam er an den Tisch und nahm mir gegenüber Platz. Er trug keine Dienstkleidung – Kakihosen, ein aus der Mode gekommener American-Eagle-Sweater, hüftlangen Mantel mit ?rmelbund beziehungsweise Kragen aus Cord – und sah ersch?pft nach einem langen Tag aus.

Ich versuchte, so gel?st wie m?glich zu wirken.

Unter dem Vorwand, mich nach brüderlicher Geselligkeit zu sehnen, hatte ich Adam am Morgen angerufen und gebeten, nach der Arbeit ein paar Bier im Mockingbird mit mir zu trinken. Earls Umschlag – er klemmte unterm Tisch zwischen meinen Knien – hatte ich nicht erw?hnt, geschweige denn den Inhalt. Ich sah vor, es ruhig angehen zu lassen und meinen Bruder mit Small Talk bei Laune zu halten; vielleicht ging auch der Rest meines Planes auf.

Gerade als Jodie und ich die Krise, oder einfach, wie ich es besch?nigte, die missliche Sache – meinen Zusammenbruch auf dem Treppengestell – überwunden hatten, schienen die Spannungen zwischen Adam und mir ebenfalls aufgehoben. Ob es natürlich eingerenkt oder Heuchelei war – wir verstanden uns wieder als Brüder. (Unn?tig zu erw?hnen, dass ich eines wusste: Meine Absichten an diesem Abend – nicht zu vergessen, was auf meinem Scho? ruhte – mochten zerst?ren, was wir wiederaufgebaut hatten, obwohl ich es nicht darauf anlegte. W?re ich, was den Inhalt des Umschlags anging, unsicher gewesen, h?tte ich ihn bereits zu Hause ins Feuer geschmissen und die Dentmans im Beisein meines Bruders nie wieder erw?hnt.)

?Du siehst gut aus?, meinte Adam über den Rand seines Bierglases. ?Wie geht es dir??

Wir hatten die Erk?ltung beide ausgesessen – er war auch krank geworden, nachdem er mir an jenem Nachmittag auf die schwimmende Treppe gefolgt war –, und ich sa? nun frisch rasiert und mit geschnittenen Haaren vor ihm.

?Besser?, behauptete ich. ?Kr?ftiger.? Kurz befürchtete ich, er bemerke die Unsicherheit, die unterschwellig in meinem Tonfall mitschwang.

Fünf Minuten sp?ter – genau zur richtigen Zeit – ging die Tür der Kneipe mit einem Knall auf, und David Dentmans breitschultriger Umriss baute sich im Rahmen vor dem stürmischen, eisern blaugrauen Himmel drau?en ab. Als er sich in den Raum schob, tropfte Regenwasser auf den Boden, und der dicke Cordmantel, den er trug, lie? seinen bulligen K?rper noch imposanter erscheinen. Er schlug die Tür hinter sich zu, doch abgesehen von meinem Bruder und mir schenkte ihm niemand Beachtung.

Adam sagte zuerst nichts, schaute mich nicht einmal an. Allerdings wartete ich auch gar nicht darauf, weil ich zu sehr auf Dentman fixiert war.

Als er mich von der gegenüberliegenden Wand aus sah, kam es mir vor, als stünde ich im Kegel eines Suchscheinwerfers auf einem Gef?ngnishof. Sein Gesichtsausdruck war der gleiche wie an dem Tag, als er nach Hause kam und bei seiner Schwester auf mich gesto?en war; er sah aus wie ein Topf auf dem Herd, der allm?hlich zu k?cheln anfing.

?Travis?, sagte Adam, allerdings leise. Er schaute immer noch über seine Schulter.

?Er wird sich mit mir prügeln wollen?, entgegnete ich rasch, bevor Dentman unseren Tisch erreichte.

Vor dem unbesetzten Stuhl blieb er stehen. Falls er meinen Bruder erkannte und dessen war ich mir ziemlich sicher, lie? er es sich nicht anmerken. Sein finsterer Blick galt allein mir, dabei zerknüllte er einen gefalteten Zettel in der Faust.

Den musste ich mir nicht genauer betrachten: Mir war klar, dass es sich um den Brief handelte, den ich an meinem Word-Computer ausgedruckt und danach in einen einfach wei?en Gesch?ftsumschlag gesteckt hatte. Am Abend zuvor war ich zum Haus der Dentmans nach West Cumberland gefahren und hatte das Schreiben durch den Briefschlitz in der Tür geschoben, geklopft und mich schnell zurück in den Wagen verkrochen, um rückw?rts vom Gel?nde zu fahren. Bis zu diesem Moment hatte ich stark bezweifelt, dass Dentman auftauchen würde. Wegen dem, was ich in diesem Brief geschrieben hatte …

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