Die Treppe im See(85)



Ich hatte unrecht.

Nachdem ich den Kellerraum ges?ubert hatte, nahm ich meine Notizbücher – diejenigen mit dem unvollendeten Fragment von Elijah Dentmans mutma?lichem Schicksal – und verstaute sie in einem meiner Koffer. Ich hab es versucht, Kleiner, beteuerte ich. So sehr, dass ich einer Sache hinterherhetzte, die gar nicht da war. Und in diesem Moment wusste ich nicht genau, ob ich mit Elijah oder meinem toten Bruder Kyle redete.

Ja, es war ein Brustkorb gewesen. Und ich hatte ihn fasziniert angestarrt, v?llig verblüfft ob meiner Vorahnung, dass ich richtig lag; ich lag richtig; ich lag richtig, meine Arbeit war getan, und meine Schreibarbeit war getan, und der Junge gerettet. Ich hatte ihn gerettet. Ich hatte es geschafft, ihn gefunden, ihn gesühnt.

Adam war aus dem Wasser auf die Treppe geklettert und hatte dabei zweimal fast das Gleichgewicht verloren. Als er mich erreichte, schlang er die Arme um mich und drückte meinen K?rper an sich. Dabei merkte ich, wie schwer er Luft holte, und sein Atemhauch wirkte hei? an meinem halb erfrorenen Hals.

?Sieh hin?, verlangte ich, ohne mir die Mühe zu machen, mit dem Finger nach unten zu zeigen.

Adam hatte bereits hingeschaut und schwieg. Lange Zeit lie? er auf sich warten, dann sagte er endlich: ?Es … es sieht aus wie … ist es …??

?Ja?, best?tigte ich.

Er flüsterte mir leise ins Ohr: ?Woher wusstest du es??

?Keine Ahnung?, gab ich zu. ?Ich kam einfach darauf. Gerade eben.?

?Aber wie??

Ich drehte ihm den Kopf zu. Sein Gesicht befand sich nun dicht vor meinem ?Ein Geist. Ich glaube, ein Geist hat es mir gesagt.?

Adam wirkte verwirrt und beklommen, aber irgendwie auch erleichtert.

?Ich bin nicht verrückt?, bekr?ftigte ich dann.

Adam blickte in den Schacht, den das hohle Treppengerüst bildete. ?Schau!?

Verblüfft sah ich noch etwas auftauchen – mehr Knochen, aber nicht nur das: Es war ein zweiter Torso.

?Adam …? Die Stimme klang gequ?lt, meine Kehle war wie zugeschnürt, ich konnte mich nicht richtig artikulieren.

Wir beide standen da und schauten zu, wie zahllose Knochen an die Oberfl?che dr?ngten. Sie wippten auf und ab wie ?pfel in einem Wasserfass, bis sie die gesamte ?ffnung ausfüllten. Auch Sch?del befanden sich darunter. Winzige Sch?del.

über all dies dachte ich nach, schloss meinen Koffer und kehrte nach oben zurück, wo ein nettes Abendessen auf mich wartete.

Tiere. Tierknochen. An einem der gr??eren Skelette hing sogar noch ein Hundehalsband, dessen Leder schwarz und schleimig, im schwachen Licht blinkte matt die Messingplakette mit dem Namen, es reichte, um ihn lesen zu k?nnen: Chamberlain.

?Warte?, sagte Adam. ?Was ist das hier??

?Das Massengrab von Elijahs Scho?tieren?, entgegnete ich, ehe ich auf den Stufen zusammenbrach, zu schwach, um mich noch auf den Beinen zu halten.

Mit einer Hand packte Adam mich an der Schulter, bewahrte mich davor kopfüber ins schwarzkalte Nass zu kippen.

In dieser Nacht kam Jodie zurück nach Hause. Ich versprach ihr, dass ich damit fertig war und alles hinter mir lassen würde. Etwas in ihr brach, und als sie in meinen Armen weinte, war ich zuerst entsetzt, doch je l?nger ich sie hielt, ihr Beben und Schluchzen an meiner Brust spürte, wurde ich zuversichtlicher, dass sie okay war. Sie musste sich ausheulen, also lie? ich sie. Au?erdem wurde mir bewusst, dass ich meine Frau schon ewig nicht mehr gehalten hatte.

(Zwei N?chte nach dem Vorfall ging ein schweres Unwetter über der Stadt nieder und zerst?rte die Reste der Konstruktion im See. Am Morgen war nichts weiter übrig als ausgebleichte Holzbohlen, die die Sturmwellen ins froststarre Schilf gespült hatte.)

Ich legte eine mehrt?gige Schreibpause ein, teils weil mich die Grippe, die ich mir beim Hacken im beinahe null Grad kalten Wasser eingefangen hatte, nachtr?glich schw?chte, aber am meisten wegen Jodie, der ich diese Zeit schuldig war. Wir schliefen mehrere N?chte in Folge miteinander und gingen zusammen ins Kino wie ein verliebtes High-School-P?rchen und ich half ihr bei der Reinschrift ihrer Dissertation. Zum Valentinstag schenkte ich ihr Blumen und Schokolade, sie mir überbackene Makkaroni, mein Lieblingsessen. Wir schauten uns bis in die frühen Morgenstunden alte Woody-Allen-Streifen an. In den Wochen nach meinem Nervenzusammenbruch auf der Treppe war alles perfekt.

Dann rief mich eines regnerischen Nachmittags Earl an und sagte: ?Junge, Sie sind ein verdammtes Genie.? Und alles ging von vorne los.





Kapitel 30




Als ich in Tooeys Kneipe aufkreuzte, hatte sich der Nieselregen zu einem gleichm??igen Prasseln ausgewachsen, das Krater in den grau werdenden Schneehaufen an der Hauptstra?e hinterlie?.

Am vorangegangenen Tag hatte ich mich mit Earl vor seinem Wohnmobil getroffen, wo er mir mit kindlicher Freude einen k?segelben und mit Packband verklebten Umschlag aush?ndigte. Von innen drang Gebell.

?Ich kann nicht fassen, dass es funktioniert hat.? Ich wog den Umschlag in der Hand. Es hatte lange gedauert, wobei ich ohne Erwartungen war, es k?nne überhaupt zu etwas führen.

?Ich gab mich, wie Sie es mir rieten, als Gewerkschafter aus, und wir br?uchten Papierkram für eine bevorstehende Finanzprüfung.? Der alte Mann grinste wie jemand, der ein gro?es Geheimnis lüftete. W?re er nur ein wenig jünger, würde er zweifellos auf seinen Fu?ballen federn. ?Sie haben es mir abgekauft.?

?Das gibt‘s ja nicht?, sagte ich. ?H?ren Sie, ich wei?, dass Sie Journalist sind. Ohne Ihnen nahetreten zu wollen: Besteht irgendeine Chance, dass Sie –?

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