Die Treppe im See(83)



Um mich herum schien die Welt zu gefrieren. Eine Schleuse tat sich im Zentrum meines Hirns auf und durchflutete es mit glei?end wei?em Licht. Ich bemerkte nur vage, wie Beth und Jodie im Flur auftauchten.

?Der perfekte Ort?, murmelte ich, als ich mich zu ihnen umdrehte.

?Travis?, sagte Adam.

?So einfach. Es ist der perfekte Ort, weil es mich schon seit dem ersten Tag anstarrt.?

?Er hat den Verstand verloren?, sprach Adam.

?Oh?, st?hnte Jodie und fing zu weinen an. ?Oh Gott …?

?Du willst eine Leiche??, schrie ich ihn an. ?Du willst den Beweis??

Wie eine Dampflok preschte ich an Adam vorbei und riss die Haustür weit auf. Jodie kreischte meinen Namen, doch ich stoppte nicht, hielt nicht einmal vorübergehend inne. Ich war nicht anwesend, sondern schwebte irgendwo oberhalb und betrachtete mich selbst wie im Traum. Ich war eine Steinlawine im freien Fall, die immer schneller wurde, eine Boeing 747 mit v?llig ausgebrannter Maschine, die mit rasender Geschwindigkeit gen Erde stürzte. Hektisch wieselte ich zur Seite des Hauses, setzte zu einem Sprint an, als ich den Garten erreichte. Die Baumst?mme vor mir standen wie Zaunpf?hle da, eine letzte Barriere zum See.

?Travis!?, h?rte ich Adam hinter mir.

Ich hastete weiter die leichte B?schung hinab durch den Schnee auf das Wasser zu, nicht ohne einen Bogen zu dem Hackklotz zu machen, in dem meine Axt steckte. Beidh?ndig packte ich den Griff und zerrte mit aller Kraft daran. Das Ger?t lockerte sich und kam frei, wobei ich fast nach hinten gestürzt w?re.

Im Augenwinkel sah ich, dass Adam mir auf den Fersen war, dicht gefolgt von Beth. Nur Jodie – meine Jodie, mein M?dchen – blieb neben dem Haus stehen und sah dem Treiben zu.

Mit der Axt in der Hand schlug ich mich durch den Wald, wobei ich ?ste aus dem Weg schob oder sie abhackte, wenn es sich anbot. Irgendwo, nahe bei mir flatterte eine Schar Amseln auf, die ich erschreckt hatte. Ich lief nicht mehr, weshalb Adam aufholte, ich h?rte die Zweige unter ihm knacken. Er rief immer wieder meinen Namen.

Ausgelaugt, aber weiter angetrieben, brach ich durch die letzten vom Winter gebeutelten B?ume. Jeder Atemzug schmerzte in der Brust, doch vor mir lag er nun: der See. Und direkt vor meinen Augen: die Treppe im See. Im Gegensatz zu meinem ersten Besuch gab es nun kein Eis mehr, auf das ich steigen konnte. Ich fand kaum Zeit, mir dessen bewusst zu werden und trat geradewegs ins Wasser. Der Uferschlamm war mit Schilf gespickt, doch mein Fu? sank rasch ein. Das Nass fühlte sich an wie ein Eisbad. Die K?lte stieg wie eine Rakete in mir auf und explodierte mitten im Sch?del. Besessen, wie ich war, wollte ich nicht aufgeben.

?Travis?, schrie Adam. Das Knacken maroder Zweige wurde lauter; immer n?her …

Ich watete hinein. Bald stand ich bis zu den Hüften im See. Mein ganzer Leib schlotterte, schien auseinanderzufallen, wie ich es von Dentmans Pick-up erwartet hatte, als er über sechzig Meilen die Stunde gefahren war. Wie aus dem Nichts nahm das Gewicht der Axt einen gefühlten Zentner zu, weshalb ich sie mit beiden H?nden festhalten musste. Dann reichte mir das Wasser bis zur Brust und ich wuchtete sie über meine Schulter. Meine Z?hne klapperten wie eine Horde Steppt?nzer. Ich spürte meine Hoden schrumpfen und sich in den Unterbauch zurückziehen. Mittlerweile machte ich keine Schritte mehr, sondern schob die Fü?e am schlammigen Boden des Sees entlang. Wie tief wurde es noch? Ich hatte keine Ahnung, und es war mir auch gleich. Genauso gut h?tte ich in diesem Moment am Grunde des Meeres waten k?nnen.

Adam erreichte den Waldrand und taumelte auf den See zu. Mein Name hallte wieder und wieder durch die Nacht. Nun konnte ich auch Beth h?ren.

Da ich mich nicht umschaute, wusste ich nicht, ob sie mir in die K?lte folgten. Ich erwartete es nicht. Egal wie, es war unerheblich. Die Treppe, dieses urzeitlich wirkende Konstrukt, ragte nur wenige Meter vor mir aus dem Wasser.

Hinter mir platschte es, ich drehte mich um und sah Adam durch das Wasser stampfen.

Die Stufen begannen bereits unter Wasser, also nahm ich den Aufstieg mit der Axt auf der Schulter in Angriff. Die Bretter waren verwittert, rissig und unansehnlich, muteten fragil wie morsche Knochen an. Auf ihnen enthob ich mich der eisigen Fluten. Der Wind blies unerbittlich. Das Wasser hatte ihn bislang abgehalten. Nun, da mein Fleisch ihm derart ungeschützt entgegentrat, wurde es sofort taub. Still, z?hlte ich die Stufen. Ich fasste die Spitze ins Auge.

Etwas knallte von unten gegen das Gebilde. Etwas im Wasser. Versenkt. Gefangen, dachte ich. Gefangen. Ich spürte meinen K?rper nicht mehr, als ich auf der vorletzten Stufe stand. Die Planke der obersten war zersplittert und nicht richtig vernagelt. Sie sah aus als w?re sie in der Vergangenheit einmal herausgebrochen worden.

Ich holte mit der Axt über dem Kopf aus. Irgendwo – von überall – rief Adam. Nur beil?ufig bekam ich mit, wie meine Blase nachgab. Die W?rme wanderte vom Schritt innen an den Oberschenkeln hinunter.

Die Axt sauste nieder. Die Planke erhielt eine fatale Wunde. Das stumpfe Eisen krachte ins sonnengebleichte Holz und teilte das Brett glatt in zwei Teile. Die N?gel hielten die beiden H?lften jeweils an den Seiten fest, sodass eine Scharte in der Mitte klaffte. Ich ging auf die Knie und zog die Teile einh?ndig mitsamt den N?geln heraus. Da meine Finger gefühllos blieben, war es schwierig, ihnen meinen Willen zur Bewegung aufzuzwingen, zumal die eine Hand wieder zu bluten begonnen hatte. Es tropfte überallhin.

?Travis!?

Als ich die beiden Planken von der Stufe gerissen hatte, warf ich sie an der Treppenseite hinunter ins Wasser – klatsch, klatsch – und schaute in das entstandene Loch. Darin stie? ich auf mein Spiegelbild. Es starrte mich aus einem Rechteck schwarzen Wassers an.

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