Die Treppe im See(94)



David hob den Kopf und starrte mich an. Trotz der Entfernung zwischen uns konnte ich die blonden H?rchen seiner Augenbrauen beinahe z?hlen. ?Ich traue der Polizei nicht?, erwiderte er, ?also werde ich denen nichts sagen, bis ich genau wei?, dass sie nicht mit falschen Karten spielen.?

?Das tun sie nicht. Sie haben nichts gegen dich in der Hand au?er der Tatsache, dass du für deine Schwester gelogen hast.?

?Wo ist sie??

?Auch irgendwo hier.?

?Was hat sie ihnen gesagt??

Wir n?herten uns gef?hrlichem Territorium, von dem mir Strohman mitgeteilt hatte, es zu meiden. Ich antwortete ihm trotzdem. ?Noch überhaupt nichts.? Schei? auf Paul Strohman, dachte ich.

?Und das wird sie auch nicht?, sagte er. Erstaunlicherweise glaubte ich, den Anflug eines L?chelns zu erkennen. Das sich nicht ganz entfaltete, wie auch immer, dafür war ich in gewisser Weise auch dankbar, denn ich befürchtete, ein solches L?cheln würde mich jahrzehntelang in meinen Tr?umen verfolgen.

?Sag mir, was du wei?t?, dr?ngte ich ihn und lehnte mich n?her an die Gitterst?be.

Er schwieg lange. Als er sich mit der Hand übers Gesicht fuhr, rechnete ich damit, dass seine Augen feucht vor Tr?nen würden, aber das trat nicht ein. Er sah mich an, und ich fühlte ein Ziehen, als h?tte er mich mit einer Lanze aufgespie?t. ?Sag dem Chef, ich sei bereit, mit ihm zu reden?, antwortete Dentman und wandte sich ab.

?Komm mit?, bat Adam.

Ich folgte ihm den Flur hinunter in den Protokollraum, den mir McMullen am Vortag gezeigt hatte. Diesmal blieb kein Klappstuhl vor der Spiegelwand frei, es war warm und stank nach schlechtem Atem. Ich blieb an der Mauer neben meinem Bruder stehen. In der Verh?rzelle flackerte die Beleuchtung auf.

Als die Tür aufging, klang das durch die Lautsprecher wie der Sound eines Horrorh?rspiels im Radio aus den Drei?igern. David Dentman trat in Begleitung zweier Uniformierter ein. Seine Unterarme waren in Handschellen vor dem Bauch verschr?nkt. Die beiden Beamten, die im Vergleich neben ihm kümmerlich wirkten, lotsten ihn zu dem Stuhl, auf dem jüngst seine Schwester gesessen hatte.

Danach kam Strohman herein und schloss die Tür hinter sich. Er trug das gleiche legere Hemd über entsprechender Hose wie w?hrend unseres ersten Treffens und hatte ein Jackett angezogen. Er sah so aus, als h?tte man ihn gerade aus einem unruhigen Schlaf geweckt. ?Okay, David?, begann er, nachdem er sich auf einem Stuhl gegenüber am Tisch niedergelassen hatte. Er legte einen dicken Ordner auf die Platte, w?hrend sich seine zwei M?nner an die Wand zurückzogen.

Ich hatte erwartet, das Verh?r laufe nach bestimmten Klischees ab, direkt und als schneller Schlagabtausch, wie in etwa in einem Roman von Elmore Leonard, jedoch sah ich mich entt?uscht, da sich Strohman keinen Zwang antat.

Er hing auf dem Stuhl und schien sich einmal mehr zu Tode zu langweilen, so als wohne er ungewollt einem AA-Treffen bei. Beil?ufig schlug er den Ordner auf, dann fragte er Dentman, ob er sich seiner Rechte bewusst sei.

?Ja?, murrte Dentman. Selbst leise lie? seine Stimme die Boxen dr?hnen.

Einer der Zuseher stand auf und drehte an einem Lautst?rkeregler an der Wand.

?Sind Sie zur Aussage bereit??, fragte Strohman.

?Noch nicht.?

Strohman sah verwirrt aus – eine Miene, die nicht zu ihm passte. ?Ach ja??

?Ich m?chte zuerst eines klarstellen?, sprach Dentman weiter.

?Das w?re??

?Meine Schwester; es geht ihr nicht gut, und zwar nicht erst seit gestern. Ich sch?tze, das muss ich Ihnen nicht sagen.? Sein Blick wanderte beinahe unmerklich zum Spiegel. Er schien zu wissen, was beziehungsweise wer dahinter steckte und ihn beobachtete. ?Trotzdem will ich es noch einmal offiziell zum Ausdruck bringen.?

?Okay.?

?Ich liebe meine Schwester. Nach Elijahs Tod ist nur noch sie von meiner Familie übrig.?

?Verstehe. Fertig jetzt??

Dentman nickte.

Strohman tastete seine Brusttaschen ab. Ein Arm kam aus dem Schatten und einer der Uniformierten reichte ihm einen Stift. ?Erz?hlen Sie uns, was an dem Tag geschah, als Ihr Neffe verschwand.?

?Ich war bis zum Abend auf der Arbeit. Wann ich nach Hause fuhr, wei? ich nicht mehr, aber die Sonne ging auf jeden Fall schon unter, daran erinnere ich mich genau. Veronica war wie jeden Tag allein mit dem Jungen im Haus. Sie hat sich immer als gute Mutter erwiesen. Selbst dann, wenn sie wieder einmal einen ihrer Momente hatte.?

?Was meinen Sie? Welche Momente??

?Manchmal ist sie einfach fix und fertig. Dann starrt sie nur vor sich hin und gibt keine Antwort. Ein Teil ihres Geistes zieht sich in ihr Innerstes zurück, glaube ich. Es ist wichtig, dass Sie auch das verstehen.?

?Die haben es bereits auf Unzurechnungsf?higkeit abgesehen?, bemerkte einer der Anwesenden im Protokollraum. Andere pflichteten ihm bei.

?Verstanden?, bedeutete Strohman. ?Fahren Sie fort.?

?Als ich durch der Haustür hereinkam, sa? Veronica auf den Stufen und starrte gegen die Wand. Da dachte ich, sie wissen schon, es sei mal wieder so weit. Mehrmals sprach ich sie an, doch sie reagierte nicht, also ging ich zu ihr, nahm sie an den Schultern und zwang sie zum Aufstehen.? Dentman imitierte die Bewegung, was seltsam aussah, da ihn die Handschellen behinderten. ?Das schien sie halbwegs aufzuwecken, denn sie blinzelte ein paarmal und schaute mich schlie?lich an. Erst dann bemerkte ich, dass sie voller Schlamm war und ein nasses Hauskleid trug.?

Strohman zog eine Augenbraue hoch. ?Nass??

?Nass von Kopf bis Fu?. Auf der Stufe, auf der sie gesessen hatte, war eine Dreckpfütze.? Leise fügte er hinzu: ?Blut klebte an ihr. Das beunruhigte mich sofort.?

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