Die Treppe im See(102)
?Nicht die Zeiten, Travis. Die Zeit.?
?Versteh ich nicht.?
?Sie bildete sich ein, jeder Tag verkürze sich um drei?ig Sekunden. Nach zwei Tagen also w?re es zur gleichen Zeit eine Minute früher. Da fehlen einem echt die Worte, was??
Ich stie? einen Pfiff aus.
?Sie machte sich gro?e Sorgen deswegen?, fügte Tooey hinzu. Dann lehnte er sich n?her zu mir, wie ein Verschw?rer. Er starrte über meine Schulter auf irgendetwas. ?Hast du unseren Freund dort hinten bemerkt??
Ich wollte mich umdrehen.
?Mach es unauff?llig?, warnte er und glitt zurück hinter seine Theke.
Einen gro?en Schluck Bier nehmend drehte ich mich beil?ufig auf dem Barhocker um.
David Dentman sa? allein in einer Ecke der Kneipe und brütete wie ein Raubvogel über einem Krug Bier. Er trug schwarz-rot gemustertes Flanell mit bis zu den Ellbogen hochgekrempelten ?rmeln. Seine Gesichtshaut hing schlaff vom Sch?del, und die borstigen Stoppeln an seinem Kinn bedurften einer Rasur. Als er sich beobachtet fühlte, schaute er auf und starrte zurück.
Geschlagen wandte ich mich ab.
Meine Gedanken kehrten zu jenem Abend auf dem Friedhof zurück, als er das Grab seines Neffen so eindringlich betrachtet hatte. Nach allem, was wir herausgefunden hatten, stellte ich fest, dass sich meine Meinung über ihn nicht ver?ndert hatte. Mit ihm stimmte irgendwas nicht.
?Glasgow.? Dentmans Bariton Stimme fuhr mir unter die Haut wie ein eisiger Stachel. ?Travis Glasgow. Glasgow, der Schriftsteller.?
Ich schwenkte auf dem Hocker herum. ?David?, entgegnete ich mit einem Nicken. Wir mochten wie alte Bekannte anmuten; in gewisser Weise, sch?tze ich, waren wir es auch.
?Komm her?, forderte er mich auf, ?nimm Platz und trink ein Bier mit mir.?
?Danke, aber ich bin mit jemandem verabredet.?
?Sei kein Spielverderber, Hemingway.? Sein Blick hielt mich gebannt, ich konnte mich nicht wegdrehen. Angeschlagen, wie ein Schatten seiner selbst wirkte er – eine leere Hülle.
Au?erdem grinste er mich an.
Es kostete einiges an Willenskraft, um aufzustehen und an seinen Tisch zu gehen. Es kam einer Gebirgspassüberquerung gleich. Ein paar Holzf?ller unterbrachen ihr Billardspiel und schauten zu mir herüber, w?hrend jemand aus der Jukebox beteuerte, seine Braut sei eine ganz hei?e Nummer.
Ein einzelner Stuhl gegenüber von Dentman schien geradezu auf mich zu warten. Ohne Worte zog ich ihn n?her und lie? mich darauf nieder.
?Wie das Schicksal so spielt?, bemerkte er humorlos.
?Die Runde geht auf mich.?
Dentman be?ugte mich als w?re ich ein Erntedank-Truthahn. ?Dein Gesicht ist gut verheilt.?
?Sieht nicht besser aus als vorher.? Als ich bemerkte, dass ich meine Wange kratzte, nahm ich rasch die Hand herunter.
?Wie auch immer … ich fasse das als Abschiedsgeschenk auf.?
?Shots?, entschied David. ?Bourbon.?
Ich winkte Tooey an unseren Tisch. Er beobachtete mich, seit ich mich hingesetzt hatte. ?Bring uns die h?rteste, übelste Flasche Bourbon, die du hast.?
In weniger als einer Minute kehrte Tooey mit zwei Schnapsgl?sern und einer dunklen Karaffe zurück, die bereits Staub angesetzt hatte. Er schraubte den Deckel ab und stellte sie neben die Gl?schen auf den Tisch. ?Ich hab auch Gl?ser gebracht, au?er ihr wollt das Zeug aus dem Aschenbecher saufen.?
Ich bedankte mich. ?Gut so.?
Als er fortging, sah er aus wie jemand, der jederzeit damit rechnete eine Kugel in den Rücken zu bekommen.
Dentman ?ffnete die Karaffe. Ich dachte schon, sie würde brechen. Beim Füllen der beiden Gl?ser verschüttete er eine Menge, dann hob er seines an und betrachtete es. ?Auf den Weltfrieden.?
Gemeinsam kippten wir einen nach dem anderen. Es schmeckte nach Pisse mit Flüssiganzünder. Ich fühlte, wie sich meine Eingeweide verkrampften.
?Tut mir leid, was geschehen ist?, sagte ich zwischendurch, als der abartige Geschmack nachlie?.
?Es braucht dir nicht leidzutun.?
?Lass mich ausreden?, bat ich. ?Tut mir leid, was mit deiner Familie geschehen ist, aber ich traue dir immer noch nicht über den Weg.?
?Das ist gut?, antwortete Dentman, ?weil ich teilweise immer noch scharf drauf bin, dir dein Gesicht zu zerquetschen.?
?Schei?e. H?tten wir besser mal auf gute Freundschaft getrunken.?
Zu meiner überraschung brach Dentman in Gel?chter aus. Es war ein tiefes Dr?hnen, der Sound eines Rasenm?hers oder besser noch eines Pick-up-Motors, auch wenn man es als Lachen erkannte. Als sein Lachen erstarb, sprach er: ?Ich bin dir wohl, was manches betrifft, meinen Dank schuldig.?
?Warum das??
Er machte ein Schnalzger?usch mit der Zunge. ?Meine Schwester braucht mich. Jemand muss nach ihr schauen. Es geht ihr nicht gut.?
Ich fragte mich, ob er wusste, dass ich seine Aussage durch die Spiegelwand mitverfolgt hatte.
?Unsere Mutter starb, als wir noch sehr jung waren, bei einem Autounfall. Ich erinnere mich nicht mehr sonderlich deutlich an sie.? Nüchtern sah er mich an – direkt in mich hinein, m?chte ich wetten. ?Mein Vater war ein schlechter Mensch.? Er schüttelte langsam seinen massigen Kopf, als versuche er, Erinnerungen loszuwerden. ?Wie war deiner so??
Mein Vater war warmherzig und verst?ndnisvoll, obwohl er seine Launen hatte und gereizt wurde, wenn er trank. Vor Kyles Tod hatte er sich als guter Dad erwiesen – ich hasste mich pl?tzlich, weil ich unf?hig war, mich an etwas anderes zu erinnern au?er an jenen Tag, da er mich mit seinem Gürtel grün und blau geschlagen hatte.
?Ein ganz normaler Kerl?, sagte ich.