Die Treppe im See(105)
?Du bist ja ein einziges Wasser. Komm mal n?her.?
Jodie hielt mich fest, um mich daran zu erinnern, dass sie real war, doch ich kam nicht umhin, mir zu sagen: Nichts von alledem ist real. Lass dich nicht von dir selbst t?uschen. Nirgends gibt es ein solches Happy End. Es war die Stimme der Psychiaterin, die mich als Junge therapiert hatte. An jenem Tag auf der schwimmenden Treppe hast du den Verstand verloren, und Jodie ertrug es nicht mehr l?nger. Sie verlie? dich, Travis, und den toten Knaben hast du nie gefunden, woran du schlie?lich auch zerbrochen bist. An Indizien mangelt es nicht; sie lagen von vornherein alle offen. Darin liegt die Wahrheit hinter der Fiktion begründet. Hier herrscht Klarheit, du wei?t schon. Alles, was danach geschah, ist schlichtweg der Fantasie eines wehmütigen Autoren entsprungen, der die Zeit gern zurückdrehen würde und sich am liebsten anders verhalten h?tte. Deshalb versucht er, seine Fehler auf die einzige Weise auszubügeln, von der er etwas versteht – indem er seine Geschichte neu schreibt. Lüge dir also nicht selbst in die Tasche.
Lass dich nicht von dir selbst t?uschen.
Wir fuhren tagelang und vertrieben uns die Langeweile, indem wir die Songs mitsangen, die uns die wenigen verfügbaren Radiokan?le vorspielten. Irgendwo westlich von Mesa Verde, nachdem wir just die alte Route 666 hinter uns gelassen hatten, h?rten wir einen Knall wie einen Gewehrschuss, und das Auto wurde durchgeschüttelt. Beim Weiterfahren auf dem Highway spürte ich, wie das Fahrgestell bockte. Jodie wurde nerv?s.
?Ein Plattfu??, lie? ich sie wissen.
?Ausgerechnet hier drau?en??
Wir waren umgeben von Bergen und W?ldern. Der letzte Gegenverkehr hatte uns eine halbe Stunde zuvor passiert.
Ich beruhigte sie. ?Im Kofferraum liegt ein Ersatzrad.?
So fuhr ich auf den Seitenstreifen, stieg aus und ?ffnete die Klappe am Heck. Zuerst einmal verbrachte ich zwanzig Minuten damit, Gep?ck auszuladen, damit ich den Boden hochheben und den Ersatzreifen herausnehmen konnte. Die Klamotten, die wir hineingestopft hatten, waren so fest zusammengepackt, dass sie ihre quadratische Form sogar beibehielten, als ich sie auf den Asphalt legte.
Jodie ging an der Seite der Spur auf und ab, w?hrend ich den Wagenheber ansetzte und den Platten wechselte. Hier im Mittleren Westen war es extrem hei?, selbst so hoch über dem Meeresspiegel, und als ich fertig war, klebte mein Shirt am Brustkorb, weil ich Tapetenkleister zu schwitzen schien.
Unsere Reise konnte weitergehen, also winkte ich Jodie, die in der Ferne ein blo?er Punkt geworden war. Zudem erschien sie hinter dem Hitzeschleier, der sich von der Fahrbahn erhob, in meinem Blick verzerrt. Eine Sekunde lang verschwand sie sogar v?llig.
Wir entschieden uns dazu, das erste Motel anzusteuern, an dem wir vorbeikamen.
?Ich muss morgen früh ein paar Anrufe erledigen und besorge uns einen neuen Reifen?, versprach ich.
Von der Herberge aus, in der wir letztlich aufschlugen, gab es auf der Gegenseite des Highways ein Restaurant namens The Apple Dumpling Diner. Es war ein Familienbetrieb und stand am Fu?e mit Tannen gespickter Berge. Als wir dort a?en, bestellte ich ihren besten Wein, der sich als Cartlidge & Browne erwies, Pinot Noir für neun Dollar pro Flasche. Dazu bekamen wir gediegene Hausmannskost; diese Leute frittierten quasi alles. Zum Nachtisch reichte man eine Schale Pekannuss-Eis, die wir uns teilten, sowie eine Kanne Kaffee.
?Du grübelst über etwas?, bemerkte Jodie, als wir das Eis halb verzehrt hatten. ?Worum geht es??
?Reden wir nicht darüber.?
?Travis, jetzt komm aber.?
?Ich will dich einfach nur anschauen.?
?Das ist lieb.? Sie hob meine Hand vom Tisch und drückte sie. ?Sag mir trotzdem, was dich belastet.?
Ich schaute an ihr vorbei durch die verglaste Seite des Geb?udes hinaus auf den Highway. Die D?mmerung hatte eingesetzt, und unsere kleine Herberge war nichts weiter mehr als ein dunkler Klecks inmitten von hellen Punkten, den Gaslampen am Rande der Fahrbahn.
?In dem Haus war etwas?, hob ich an. ?Vielleicht hast du es auch bemerkt. Damit fing alles überhaupt erst an.?
?Du meinst Geister?, ahnte Jodie.
?Es klingt bescheuert.?
?Nein?, sie streichelte meine Hand. ?Ganz und gar nicht.?
?Dann …? Ich unterbrach mich selbst. Mir fiel ein, wie mir Dentman an jenem Abend im Mockingbird gedankt hatte, aber in Wirklichkeit war alles durch Elijah – oder zumindest einen Teil von ihm, der zurückgeblieben war – losgetreten worden.
?Liebling, erz?hl es mir.?
Fast lie? ich mich dazu hinrei?en, ihr zu gestehen, was mich plagte, doch am Ende setzte ich blo? ein L?cheln auf und schob vor: ?Es ist verrückt; ich kann nicht glauben, dass wir uns über Geister unterhalten.?
?Vergiss die Geister. Das alles ist Schnee von gestern.?
?Ja?, pflichtete ich bei. Ohnehin konnte ich die g?hnende Leere nicht fassen, die der untote Elijah unwissentlich in mir hinterlassen hatte. Wie es einen Wiederg?nger geben konnte, w?hrend ein anderer unerreichbar blieb, weil er sich dazu entschlossen hatte, mich auf ewig leiden zu lassen …
?Geht es dir nicht gut??
Mir blieb nur der Kampf mit mir selbst, um nicht innerlich zu zerbrechen. ?Wie k?nnte es mir besser gehen??
Für den Rest des Abends schlief ich fest, doch mitten in der Nacht lie? mich ein Traum aufschrecken. Darin ertrank ich weit drau?en im Ozean, nachdem ich lange gek?mpft hatte, nicht unterzugehen. Jedes Mal, wenn mein Kopf wieder an der sturmumtosten Oberfl?che der grauen See auftauchte, sah ich ein h?lzernes Schwimmdock, dass nur knapp au?er Reichweite dahintrieb. Ich schwamm darauf zu, schluckte Wasser und musste husten. Mein K?rper wurde steif, und als ich wieder Luft schnappte, orientierte ich mich und stellte fest, dass sich meine Rettung weiter und weiter entfernte.