Die Treppe im See(106)
Einschlafen konnte ich nicht mehr, also ging ich ins Dunkle nach drau?en und rauchte ein paar Zigaretten, bis mir schummrig vom Nikotin wurde.
Am Morgen fuhr ich bereits früh, noch ehe Jodie aus den Federn stieg, in die n?chste Stadt, um in einer Werkstadt einen neuen Reifen zu kaufen. Ich wartete in einem Raum von der Gr??e einer Schuhschachtel, den Plastikboxen mit Country-Musik beschallten. Ein kleiner Fernseher mit Dipolantenne, dessen vertikaler Bildlauf dringend nachjustiert werden musste, stand auf stumm gestellt auf einem Klappstuhl. Eine offene Schale trockener Donuts lockte oben auf einem Regal, wo ansonsten Zeitschriften auslagen. Hier hockte ich vierzig Minuten lang, bis man mich aufrief und ich an der Kasse für die Reparatur l?hnen durfte.
Auf dem Rückweg schien mir die Sonne direkt in die Augen. Ich verfuhr mich und geriet auf eine kurvenreiche Stra?e durch den Wald. Gut gelaunt suchte ich einen Alternative-Rock-Sender, doch nachdem ich mehrere Minuten am Radio gefummelt hatte, musste ich mich geschlagen geben. Die Stra?e vor mir verengte sich zu einer Einzelspur, also bremste ich. Wie auf Kommando staksten zwei Rehe mitten auf die Fahrbahn, weshalb ich anhielt. So sa? ich ruhig mit beiden H?nden fest am Steuer und beobachtete sie. Ihre feuchten, tintenschwarzen Augen schienen mich wahrzunehmen, doch dann sprangen sie in die Richtung des dichten Graus der Fichten auf der anderen Seite.
Gerade wollte ich den Fu? von der Bremse nehmen, als mir eine weitere Bewegung am Rande meines Gesichtskreises auffiel. Ich drehte den Kopf und kniff die Augen zusammen; es kam dem Versuch gleich, die Schatten im Dickicht voneinander zu unterscheiden. Deshalb fuhr ich links ran und stieg aus. Um mich herum roch es schwer erdig nach Wildnis, und ich verstrickte mich mit den Stiefeln in den Schlingpflanzen am Boden. Nachdem ich durchs Ried auf einen dunklen Punkt zugegangen war, der eine Lücke zwischen den B?umen in Aussicht stellte, sp?hte ich voraus und erkannte eine Art Trampelpfad durchs Gestrüpp und Unterholz.
Ich schlug mich hinein und folgte dem Weg.
Bald stand ich am Rande eines tiefen Sturzes, an dessen Grund sich ein Teppich von Feldern ausbreitete. Ihr Grün, trotz Dunkelheit wie aus dem Bilderbuch, schien bis zum Horizont zu reichen. Zudem wand sich unmittelbar unter mir ein Fluss durchs Tal, der die Landschaft perfekt teilte. Am Ufer spross ein anmutiger Saum bunter Blumen, deren Farben ich teilweise noch nie gesehen hatte, weshalb mein Hirn eine Weile brauchte, um sie zuordnen zu k?nnen.
Vorsichtig machte ich mich auf den Weg am Hang entlang nach unten. Der Fluss, dessen Oberfl?che vollkommen still war, schl?ngelte sich nur wenige Zoll neben mir zwischen den zahlreichen Blüten hindurch, die sich im Wasser spiegelten. Ich verspürte den Drang, die Hand ins Nass zu halten, also streckte ich einen Zeigefinger aus und berührte es nur leicht, was jedoch genügte, um kr?uselnde Wellen heraufzubeschw?ren. Die Reflexion der Blumen verzerrte sich und zerfaserte schlussendlich.
Ich richtete mich wieder auf und folgte dem Strom durch das Tal. Erst auf halbem Weg über die Ebene bemerkte ich, dass ich nicht allein war. Es stand ohne Zweifel fest und h?tte mich eigentlich ?ngstigen müssen, doch ich fühlte mich weiterhin seltsam entspannt, ja geradezu ausgelassen. Wie ich weiterging und mein Genick von der Morgensonne w?rmen lie?, kam es mir h?ufiger als einmal so vor, als blicke ich auf etwas Handfesteres im Gras als blo? Schatten.
Ehe ich mich versah, hatte ich die Felder hinter mir gelassen. Den weiteren Weg versperrte ein Wall von Kiefern, in dem der Fluss verschwand. Im Schatten der B?ume wirkte die Blütenpracht wie die Landebahnbeleuchtung auf einem Flughafen. Ich betrat den Wald geduckt, weil die ?ste tief herabhingen. Zudem blendeten sie das Licht sofort aus, und ich glaubte, das Geh?lz atme mich regelrecht ein.
So dicht die Zweige hingen, glei?te die Sonne weiter voraus doch hindurch: Ich n?herte mich einer Lichtung. Zu meinen Fü?en spiegelte sich der Himmel, da merkte ich, dass ich auf einen See schaute. Aus unerfindlichem Grund schlug ich ein schnelleres Schritttempo an. Ich hastete weiter, bis ich endlich auf der anderen Seite der Baumgruppe hervortrat und neuerlichem Tageslicht entgegensah. Vor mir lag wie eine Scheibe aus schwarzem Rauchglas ein ausuferndes Gew?sser. In seiner Unermesslichkeit lie? es die B?ume am Gegenufer kaum erkennen.
Eine Weile blieb ich am Rand stehen, um die Sonne auf Rücken und Schultern zu genie?en. Cremefarbene Wasserlilien trieben auf den Wellen, trudelten tr?ge über die Spieglung meines Gesichtes.
Kyle war hier – die Bewusstwerdung war bahnbrechend, glich einem Hammerschlag auf den Kopf. Ja, Kyle war hier. Im Gedenken an ihn lag ein Geschmack auf meiner Zunge, und sein Odeur streifte flüchtig wie ein Lufthauch meine Nase. Ich ging in die Knie, neigte mich über die Steine am Ufer und schob die Lilien von meinem Spiegelbild. Das Wasser war so kalt, dass sich meine Eingeweide zusammenzogen. Mein Antlitz waberte und schillerte, ehe es sich wieder festigte. Ich war es selbst, der da zurückschaute – ich und sonst niemand. Trotzdem verharrte ich und hielt den Atem an, denn ich wollte keine Wellen machen, sondern ihn sehen – unbedingt. Leider blieb es bei meiner Reflexion, bei mir und sonst niemandem. Ich sah mir selbst in die Augen, betrachtete meine neue Frisur und die Struktur der Gesichtsknochen unter brauner Haut. Der kaum merkliche Knick im Nasenbein sowie das kleine Kinngrübchen – all dies war unverkennbar ich.
Ich und ich und ich.
Verdrossen zog ich mich auf H?nden und Fü?en zurück. Zum Aufstehen konnte ich mich nicht bewegen, noch nicht. Dann lachte ich. Es platzte v?llig unkontrolliert aus mir heraus, und damit einher gingen Tr?nen, die direkt aus meinen Augen ins hellgrüne Gras tropften. Ich lachte und weinte, lachte und weinte.