Die Treppe im See(103)



?Unser Vater?, sprach er, und es klang wie ein auswendig gelerntes Gebet, ?war geisteskrank, noch bevor er offiziell für verrückt erkl?rt wurde. Dieser Irre war in der Lage, seine Kinder, als sie noch klein waren, an B?ume im Wald zu fesseln. Wenn du ein Geschirr zerbrichst, kriechst du in den Splittern. Wenn du den Herd schmutzig hinterl?sst, bekommst du die hei?en Platten zu spüren. Mit deinen H?nden. Lange. So lange, bis du deine Lektion gelernt hast.? Er schob das Kinn vor. ?Hast du es auch auf die Tour lernen müssen, als du ein Kind warst??

?Nein, nicht auf diese Weise.?

?Er zwang mich dazu, Dinge zu tun, die kein Erwachsener – vor allem kein Vater – je von einem Kind verlangen sollte. Veronica tat er weit Schlimmeres an. Dinge, die er mit mir nicht machen konnte.?

Dies rief so bestürzende, brutalste Bilder in meinem Kopf hervor, dass mir speiübel wurde. Wie Gift breitete sich dieses Gefühl vom Magen aus und rauschte durch meine Adern. Was für entsetzliche Dinge Veronica in diesem Haus widerfahren sein mussten …

?Als ich alt genug war, brach ich aus, kehrte aber für Veronica wieder zurück. Ich durfte nicht zulassen, dass er … dass er weiterhin … Ich musste wiederkommen. Das Zimmer im Keller? Das hinter der Wand? Er hat es für sie gebaut. Sie fürchtete sich davor, doch er sperrte sie jeden Abend dort ein.?

?Mein Gott …?

?Manchmal blieb er dort unten bei ihr?, fügte er hinzu. ?Im Dunkeln.?

?Stopp?, h?rte ich mich selbst sagen, wie von fern und leidlich überzeugend – wie das Miauen einer Katze, die sich im Wald verirrt hatte.

?Ich kam zurück, um sie mitzunehmen. Wir kehrten ihm gemeinsam den Rücken. Aber zum Teufel mit ihm, sie war ein einziges Wrack.? Dentman klang angewidert, schien aber trotzdem auf seltsame Weise daran gewohnt zu sein, sich derart zu ?ffnen. ?Sie tat sich schwer und verbrachte eine Menge Zeit in Kliniken. Natürlich geriet sie auch an Leute, die nicht verstanden, wie empfindsam sie war. Sie wurde schwanger und bekam Elijah.? Seine Stimme klang befremdlich abweisend und dennoch voller Zuneigung. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, dass er den Jungen wahrscheinlich auf eine verdrehte, schwer zu ergründende Weise geliebt hatte.

David schenkte zwei weitere Bourbons ein und stürzte seinen hinunter, ehe ich überhaupt zum Glas greifen konnte.

?Als sie erfuhr, dass er erkrankt war, meinte sie, wir müssten zurückkehren, denn es sei ihre Pflicht als Tochter, ihm in seinen letzten Tagen beizustehen.? Seine Augen glitzerten wie Edelsteine. So aufmerksam wie ihn hatte ich noch nichts und niemanden im Leben angesehen. ?Kannst du dir das vorstellen? Nach allem, was er ihr angetan hat??

?Warum erz?hlst du mir das??

Er schaute auf mein Schnapsglas. Ich hatte die Finger darumgelegt, rückte es aber nicht von der Stelle. ?Trink?, gebot er.

?Ich will nicht.?

?Trink, oder ich ramme dir das Glas in den Sch?del.?

Es brannte wie S?ure meinen Hals hinunter. Das stimulierte meinen Würgereflex und ich glaubte, mich übergeben zu müssen.

?Sieh dich an?, knurrte Dentman befriedigt.

Meine Augen schwammen in Tr?nen, als ich das Glas auf die Tischplatte knallte.

?Ich hasse dich und trotzdem muss ich dir danken.? Er starrte auf seine H?nde. Handfl?chen nach oben, die Finger leicht gebogen, sahen sie aus wie ein Paar unbekannter Meereswesen, die man aus einem Netz befreit und aufs Deck eines Schiffes geworfen hatte. ?Ich hasse dich, weil sie deinetwegen eine Weile von der Bildfl?che verschwinden wird. Die ?rzte wollen sichergehen, dass sie stabil bleibt, damit sie okay ist. Du hast sie ziemlich aufgewühlt. Meine kleine Schwester hat ganz sch?n gelitten wegen dir.?

Unter lautem Lachen wurde die Tür der Kneipe aufgesto?en. Ich drehte den Kopf, um zu sehen, ob Adam gekommen war. Die beiden M?nner, die hereinkamen, kannte ich als Tooeys Stammkunden, aber mein Bruder war nicht unter ihnen. Als ich mich wieder David widmete, hatte er neu eingegossen. ?Mann, ich kann nicht mehr …?

?Trink schon. Wir ziehen das durch, oder??

?Was denn??

?Trink.?

Mit zittriger Hand kippte ich den Drink. Dann sah ich Dentman doppelt und dreifach, bevor mein Blickfeld an den R?ndern ausfranste. Abwesend bekam ich mit, wie er eine seiner ger?teten H?nde zu einer enormen Faust ballte. Ein Mann wie er war am gef?hrlichsten, wenn er nichts mehr zu verlieren hatte.

?David?, brachte ich nach zu langem ungemütlichem Schweigen über die Lippen.

?Du bist ein schei?verflucht guter Schriftsteller?, befand er in ruhigem, gleichm??igem Ton. Mit zwei Fingern fuhr er in die Brusttasche seines Flanellhemdes und zupfte ein gefaltetes Papier heraus. Ich dachte, dass er es aus einer Zeitung gerissen hatte. Als er es jedoch offen auf den Tisch legte, erkannte ich es als Buchseite. ?Meine Lieblingsstelle?, bemerkte er.

Er hatte den Text in der Mitte des Blattes unterstrichen – nur eine Zeile, nicht mehr.

Weil er mein Bruder ist, will ich tausend Tode sterben, um seinen zu vergelten.

Ich schob das Papier wortlos zurück.

Dentman nahm es, faltete es sauber zum Quadrat und steckte es zurück in die Brusttasche. ?Ich dachte n?chtelang darüber nach, was passiert war.? Er wirkte geistesabwesend, schien zwischen Wirklichkeit und Erinnerung zu schweben. ?Wusste Veronica, was mit Elijah geschah, oder hatte ihr Geist alles verdr?ngt? War sie nach all den schrecklichen Dingen, die unser Vater ihr antat, letztlich eingeknickt? Ich bin nicht bl?d. Es hei?t, der Hang zum Missbrauch sei erblich und werde wie Alkoholismus weitergereicht. Ich ging jeden Abend in der Annahme zu Bett, meine Schwester habe ihrem Sohn etwas Furchtbares angetan.?

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