Die Treppe im See(104)



Er schwenkte zurück in die Gegenwart und sah mich direkt an. ?Sie ist meine Schwester. Ich danke dir, dass du bewiesen hast, dass sie kein Monster ist – dass Vater sie nicht v?llig ruiniert hat. Danke, dass du mir diesbezüglich Klarheit verschafft hast.?

?Du verschweigst mir etwas. Etwas, das du geflissentlich aussparst.?

Mir war, als umspiele der Hauch eines L?chelns seine Mundwinkel. ?Du schreibst toll, bist aber kein gro?artiger Schriftsteller. Dazu müsstest du jeden noch so kleinen Stein umdrehen und darunter nachschauen, fast wie es ein Detektiv t?te. Keine M?glichkeit dürftest du au?er Acht lassen. Egal wie gern du deine Charaktere in eine bestimmte Richtung führen m?chtest, du kannst sie am Ende doch nur so handeln lassen, wie es für sie natürlich ist.?

?Schei?e, das klingt richtig scharfsinnig.?

?Erinnerst du dich an den Friedhof? Du hast mich als M?rder bezeichnet. Und ich habe dir versichert, dass ich meinen Neffen nicht umgebracht habe.? Er nahm die Flasche wieder zur Hand und füllte die Gl?ser erneut. ?Was ich damit sagen will, Glasgow, ist Folgendes: Wir liegen vielleicht beide richtig.?

Wir starrten uns lange, lange an. Zuerst begriff ich nicht, was er meinte … als es mir schlie?lich d?mmerte, geschah es nicht wie aus heiterem Himmel, sondern tr?pfchenweise, bis alle Nischen und Winkel, alle Ausbuchtungen in meinem Geist ausgefüllt waren wie die Lungen eines Ertrinkenden mit schwarzem Wasser.

David Dentman lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Seine Stirn troff vor Schwei?. Er hob sein Schnapsglas und betrachtete es genau, als enthalte es den letzten Drink, den er zu sich nehmen sollte.

?Auf V?ter?, toastete er.

Als Adam eintraf, sa? ich immer noch am Tisch, obwohl Dentman l?ngst gegangen war. Adam trat hinter mich und legte mir eine Hand auf die Schulter.

Ich fuhr erschrocken in die H?he, wobei fast der Bourbon vom Tisch auf den Boden kippte, wo sich das Zeug vermutlich durch die Bretter ge?tzt h?tte.

?Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen??, fragte er.

?Vergiss es.?

?Alles in Ordnung??

?Bestens?, beteuerte ich mit einem L?cheln. ?Setz dich und trink einen auf deinen kleinen Bruder, bevor er dich für das sonnige Kalifornien verl?sst.?

Adam setzte sich, nahm die Flasche zur Hand und verzog das Gesicht. ?Was ist das für ein Zeug??

Ich schob ihm ein leeres Gl?schen zu. In der Jukebox begann ein Bruce-Springsteen-Song mit Mundharmonika. ?Trink einfach.?

Wir verbrachten die Nacht in vollkommenem Schweigen, dachten an so viel und mussten doch nichts davon aussprechen.

Wie Brüder.





Epilog / Prolog




Wir waren ein Mückenschiss auf der Weltkarte. K?nnt ihr uns sehen? Wir krabbelten wie ein Leuchtk?fer auf kartografiertem Gel?nde und reflektierten das silbrige Sonnenlicht in glei?enden Strahlen, stie?en Abluft aus, schlingerten durch Kurven, bewegten uns im Slalom oder über lange Geraden, als seien wir auf Meilen hin das einzige, was z?hlte. Vielleicht war es auch so. Der kleine Honda brummte unter der Bürde unserer Flucht weiter und lag dabei tief genug, um an manchen P?ssen mit dem Fahrwerk aufzusetzen.

Seht genauer hin, und ihr entdeckt uns – mich mit Sonnenbrille, frisch geschnittenem Haar und glattrasiert hinterm Steuer wie Tom Cruise oder meinethalben auch Tom Sawyer. Neben mir Jodie, die die Anlage mit Tom Petty, Sheryl Crow und Better Than Ezra speiste, dabei glatt, fit und unberührt aussah sowie sauber nach Seife duftete. Die Tage waren lang und sonnig, die Himmel nicht von einer Wolke getrübt. Nachts wurde es hingegen angenehm frisch. Die Landschaft, die sich uns offenbarte, wirkte neu und gleichsam unberührt; alles – ja, wirklich alles – kam uns so vor.

Gelegentlich schaute ich in den Rückspiegel, w?hrend mein Gehirn immer noch am letzten Bild der Familie meines Bruders festhielt, die uns beim Verlassen der Sackgasse hinterhergeschaut hatte. Wir hatten zum Lebewohl gewunken, um Westlake auf ewig den Rücken zu kehren, mit offenem wie gebrochenem Herzen, aber dennoch voller Hoffnungen und Erwartungen mit Bezug zu allem, was auf uns zukommen mochte – und umarmt hatten wir uns. Bleib sauber, kleiner Bruder. Jetzt steuerten wir ein fremdes County in einem fremden Bundesstaat an, und die l?ndliche Idylle von Westlake war nichts weiter als ein verg?nglicher Traumschatten. Einmal glaubte ich, sie alle noch einmal in dem kleinen Rechteck aus Spiegelglas winken zu sehen.

Wir machten an Rastst?tten in vergessenen Ortschaften und sonstigen unwirklichen Gefilden Halt, um fettige Hamburger zu essen, die dick wie Bibeln waren, und so verbissen Milchshakes zu schlürfen wie Erzrivalen bei einem Trinkwettbewerb.

Die erste Nacht verbrachten wir in einem kleinen Stundenhotel direkt am Highway. Die Sterne am Himmel leuchteten zu Millionen, weshalb wir eine Zeit lang einfach nur auf dem Parkplatz verharrten und nach oben starrten. In einer nach Schimmel riechenden Nasszelle duschten wir gemeinsam, ehe wir in einem fremden Bett Liebe machten, und sobald Jodie eingeschlafen war, schlich ich wieder nach drau?en, um mich einmal mehr am Anblick des Firmaments zu weiden.

Falls ihr gern der Annahme aufsitzt, zu wissen, wie die Dinge stehen, oder zumindest glaubt, dass ihr es tut, und damit zufrieden seid, so schlie?t die Augen. Lebt so weiter und haltet sie geschlossen.

In einer anderen Nacht in einem gottverlassenen Teil des Landes wachte ich auf, da ein Schrei in meinem Hals steckengeblieben war.

?Was ist los, Schatz??

?Hatte einen schlechten Traum?, keuchte ich.

?Beschreibe ihn mir.?

?Wir spielten in einem meiner Bücher mit?, deutete ich an.

Ronald Malfi's Books