Aschenpummel (German Edition)(86)
Doch der Pirat hatte sein eigenes Tempo. Und während ich dasaß und wartete, erinnerte ich mich daran, dass ich sein Tempo ja eigentlich mochte. Und wenn diese Sache zwischen uns etwas werden sollte, dann musste ich mich eben verdammt noch mal daran gewöhnen.
Ich nahm einen großen Schluck durch den Strohhalm.
Da endlich sprach er: »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Eher würde ich die Augenklappe ablegen.«
»Dann tun Sie das doch endlich«, flehte ich.
Erschrocken fuhr er zurück. »Nein.«
»Gut, dann sagen Sie mir, warum Sie Gisela gesagt haben, dass ich lesbisch bin.«
Er schüttelte den Kopf.
»Dann runter mit der Klappe!«
»Ich kann nicht!«
»Sie können!«
»Nein!«
Da sprang ich auf. »Ach verdammt noch mal, dann will ich Ihnen mal was sagen: Ich mag Sie. Ich mag Sie so sehr, dass ich vier Monate lang jeden Abend zu Ihnen gekommen bin und mir ein Buch gekauft habe. In meiner Wohnung, die wirklich nicht sehr groß ist, stapeln sich die Bücher! So sehr mag ich Sie. Ich mag Sie so sehr, dass ich versucht habe, innerhalb einer Woche zu einer Frau zu werden, die es verdienen würde, an Ihrer Seite zu sein. Ich mag Sie so sehr, dass ich vier Tage lang Extremsport betrieben habe, um eine halbwegs anständige Figur zu bekommen. Ich mag Sie so sehr, dass ich gestern Nacht beinahe, ach, verdammt, vergessen Sie’s! Jedenfalls mag ich Sie bei weitem genug, dass ich es restlos akzeptieren würde, wenn Sie sich mir nie ohne Augenklappe zeigten. Sie sollten aber wissen, dass es nichts, gar nichts geben könnte, was sich unter der Klappe verbirgt, das irgendetwas an meinen Gefühlen für Sie ändern könnte. So sehr mag ich Sie!«
»Flammende Rede, Lady«, bemerkte Bodybuilder anerkennend. Oder auch verarschend.
Völlig egal, das Einzige, was zählte, war der Pirat, der bei meinen letzten Worten aufgestanden war und sich mit einem Ruck die Augenklappe vom Kopf gerissen hatte.
Lieber Himmel. In meinem ganzen Leben hatte ich so etwas nicht gesehen.
Es war das schönste Gesicht, das der liebe Gott je gemeißelt hatte.
»Uhh, das ist übel«, hörte ich den Barkeeper sagen.
Bodybuilder verzog das Gesicht und klopfte dem Piraten auf die Schulter: »Kopf hoch, Junge, du hast ja noch die Augenklappe.«
Ich konnte mich gar nicht satt sehen an ihm.
»Ich habe ja gewusst, dass Sie entsetzt sein würden.«
Ich fasste mir ans Herz. »Entsetzt? Sie meinen – ich, ich versuche nur zu verstehen, warum Sie diese Klappe tragen. Ist es – damit die Leute Sie nicht nur auf Ihr Aussehen reduzieren?«
Er ließ den Kopf sinken. »Naja, als Kind bin ich ziemlich verspottet worden –«
»Ich auch«, rief ich begeistert. »Aber Moment mal, warum Sie?«
»Na, deswegen eben.«
»Wegen Ihrer Schönheit?«
Er hob den Kopf, seine Stirn war gerunzelt. »Wie können Sie mich so verspotten?«
Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Belämmert schüttelte ich den Kopf.
Verzweifelt rief er: »Sehen Sie es denn gar nicht?«
»Ja, was denn, um Himmels willen?«
»Na, mein linkes Auge. Oder auch das rechte. Je nachdem.«
Ich wollte es ja sehen. Ich bemühte mich, es zu sehen. Ich streckte den Kopf nach vorne und rückte meine Brille zurecht. Jetzt sah er noch schöner aus als zuvor. Da würde Tissi mit ihrem Zahnarzt ziemlich abstinken daneben.
In dem Moment sagte der Pirat: »Mein linkes Auge ist doch viel weiter unten als das rechte.«
Ich kniff die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können, doch mir blieb nichts anderes übrig, als wieder den Kopf zu schütteln.
Da endlich lächelte der Pirat. Er sagte: »Ich habe Gisela angerufen und behauptet, dass Sie lesbisch sind, weil …«
»Ja?«
Der Pirat atmete tief ein, dann legte er los: »Weil ich alles an Ihnen mag. Ich mag Ihre Begeisterung, Ihr Mitgefühl, Ihre Spontaneität. Ich mag es, wie Sie mich ansehen, und ich mag, wie Sie aussehen.«
Am liebsten hätte ich mich versteckt, so sehr musste ich plötzlich grinsen. Ich spürte, wie ich knallrot anlief und mir die Tränen in die Augen traten. Bitte nicht heulen, bitte nicht!
»Ich mag Sie«, sagte der Pirat. »Ich mag Sie so sehr, dass ich vier Monate lang jeden Abend auf Ihren Besuch gewartet habe. Ich mag Sie so sehr, dass ich jedes Buch, das Sie bei mir gekauft haben, am nächsten Tag nachgekauft habe, um es zur gleichen Zeit lesen zu können wie Sie. Ich mag Sie so sehr, dass ich mich nicht getraut habe, Sie um eine Verabredung zu bitten. Ich mag Sie so sehr, dass ich behauptet habe, dass Sie lesbisch sind, damit Gisela dazukommt, weil ich gehofft habe, dass sie uns auf irgendeine Weise zusammenbringen könnte. Ich mag Sie so sehr, dass ich Cheyenne eingeredet habe, dass sie unbedingt ins Kasperltheater gehen möchte, nur damit ich wieder etwas mit Ihnen unternehmen kann.«